Streitobjekt Elektronische Gesundheitsakte

Bei der Elektronischen Gesundheitsakte tut sich etwas. Immer mehr Angebote sind in Planung. Aber: Einige Krankenkassen wollen ihren Kunden künftig keine freie Wahl lassen. Die Patienten können nicht frei aus verschiedenen Angeboten wählen und haben dadurch das Nachsehen. (Aktualisierter Beitrag vom 15. Dezember 2017)

Während der Rollout für die Elektronische Gesundheitskarte (eGK) – Jahre später als ursprünglich geplant – gerade beginnt, steht eine bundesweit einheitliche Elektronische Gesundheitsakte für alle Patienten in Deutschland noch in den Sternen. Zwar sprechen IT-Spezialisten wie die CompuGroup Medical Deutschland AG davon, dass die Einführung der elektronischen Gesundheitsakte als ein besonderer Meilenstein gilt. Doch die Realität sieht anders aus: Zwar wird seit mehr als einem Jahrzehnt über die digitale Akte diskutiert, vorangekommen ist eine solche Lösung seitdem aber kaum.

Tatsächlich ist die Elektronische Gesundheitsakte (EGA) in technischer Hinsicht dabei längst startklar oder zumindest auf dem Weg – allerdings als Einzellösung unterschiedlicher Anbieter und Krankenkassen. Die bisherigen Angebote und Ansätze unterscheiden sich deutlich.

EGA für 26 Millionen Versicherte

So bauen die Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOKen) derzeit ein eigenes Netzwerk auf. Im Oktober 2017 kündigte der Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes Martin Litsch an, dass die 26 Millionen AOK-Versicherten künftig ihre Gesundheitsinformationen, die von Ärzten und Kliniken bereitgestellt werden, einsehen und anderen Leistungserbringern zur Verfügung stellen können. Außerdem sollen sie die Möglichkeit haben, selbst erhobene Daten wie Messwerte etwa von Blutdruck oder Puls zu speichern. Die Maßnahmen zum Datenschutz klingen bei der AOK kompliziert: Geplant ist ein „digitales Rechtekonzept“. Der Versicherte soll dabei die „absolute Datenhoheit“ haben und selbst entscheiden, wer welche Informationen einsehen kann. Aber: Der teilnehmende Arzt, das Krankenhaus oder andere medizinische Einrichtungen bleiben Inhaber der von ihnen erfassten behandlungsrelevanten Informationen. Die AOK wiederum besitzt nur die Versichertendaten. Sie erhält keinerlei Zugriff auf Befund- oder Behandlungsinformationen des Versicherten. Behandlungsrelevante Informationen sollen lokal beim Erfasser gespeichert werden. Für die digitale Akte wird ein Verweis auf die vorhandene Information erstellt und in einem Register festgehalten.

Martin Litsch , Vorstandsvorsitzender des AOK Bundesverbands
Gesundheitsakte für 26 Millionen Versicherte: Martin Litsch , Vorstandsvorsitzender des AOK Bundesverbands (Foto: AOK-Mediendienst)

TK kooperiert mit IBM

Die Techniker Krankenkasse (TK) entwickelt nach einer europaweiten Ausschreibung gemeinsam mit dem US-Konzern IBM eine elektronische Gesundheitsakte für ihre etwa zehn Millionen Versicherten. Die Akte soll allen TK-Mitgliedern kostenfrei angeboten werden. Die EGA bietet laut der TK einen gesicherten elektronischen Speicher, indem die Versicherten Einblick in ihre gebündelten Gesundheitsdaten erhalten. Die Daten hierfür stammen laut TK aus verschiedenen Quellen. Die Kasse wird ihren Versicherten – sofern diese es ausdrücklich wünschen – Gesundheitsdaten zugänglich machen. Das sind etwa Routine- und Abrechnungsdaten, aber auch die Liste verordneter Medikamente. Von den Leistungserbringern – Ärzten und Krankenhäusern – können medizinische Daten wie Labordaten, Informationen zu Untersuchungen und Therapien wie etwa Röntgenbilder oder auch Arztbriefe kommen – wiederum jeweils auf ausdrücklichen Wunsch des Versicherten. Zudem kann der Versicherte eigenhändig Daten ergänzen und dokumentieren.

Diskussionswürdige Datensouveränität

Den Kopf über die geplanten Angebote schüttelt Markus Bönig. „Der deutsche Ethikrat fordert einen grundlegenden Wandel im Umgang mit der immer größer werdenden Datenmenge im Gesundheitsbereich und sieht hier die Datensouveränität des Bürgers als informationelle Freiheitsgestaltung im Zentrum.“ Umfangreiche Schutzmechanismen und Gestaltungsstrategien seien dafür erforderlich.

Bönig ist Geschäftsführer des Hamburger Unternehmens Vitabook, das bereits seit mehreren Jahren eine Elektronische Gesundheitsakte anbietet und über 200.000 Nutzer zählt. Motto des Anbieters: „Deine Gesundheitsdaten gehören Dir.“ Notfalldaten, aber auch die kompletten Gesundheitsdaten, Impftermine, Medikationspläne und auch Allergien werden hier vermerkt.

Wer welche Informationen einsehen darf, entscheidet ausschließlich der Patient. Zur Verfügung gestellt werden die Daten über die Microsoft Cloud Deutschland. Gespeichert werden die Daten von T-Systems, einer Tochter der Deutschen Telekom. Microsoft hat keinerlei Zugang zu Kundendaten. Vitabook sieht sich hier anders positioniert, schließlich sei man keine Krankenkasse und kein Arzt, sondern ausschließlich Provider einer Elektronischen Gesundheitsakte – die unter der alleinigen Regie des jeweiligen Nutzers geführt werde. Nach Einschätzung von Bönig sind nur so Interessenkonflikte ausgeschlossen. Die Techniker Krankenkasse widerspricht dem: „IBM ist ebenfalls ein unabhängiger Provider. Weder IBM noch die TK haben Einblick in die Daten der Nutzer. Der Versicherte hat die alleinige Souveränität über seine Daten.“

Krankenkasse im Mittelpunkt

Die Angebote von AOK und TK sieht Bönig kritisch: Bei der AOK-Lösung würden die Metadaten sämtlicher Gesundheitsinformationen unter der Hoheit einer Krankenkasse in einem zentralen Index gespeichert. Auch seien von Anfang an weitreichende Zugriffsrechte für Ärzte geplant. „Der Patient selbst ist hier nicht die datenverarbeitende Stelle“. Bönig weiter: „Auf die Daten der EGA darf ausschließlich der Versicherte zugreifen. Die EGA muss von einem Dritten, der nicht die Krankenkasse sein darf, betrieben werden.“

Freie Wahl nicht erwünscht

Verärgert ist er auch über die TK, die sich in der Öffentlichkeit gerne als fortschrittliche Krankenkasse präsentiere. Zwar sei der Ansatz der Gesundheitsakte hier gut, aber die Versicherten würden bevormundet: „Die TK will ihren Versicherten nicht die Möglichkeit bieten, aus mehreren EGA-Angeboten zu wählen und dafür die Kosten zu übernehmen“. Das Pikante daran: Vitabook hat bereits über 24.000 TK-Versicherte als Nutzer. Ihnen verweigert die Krankenkasse mit Verweis auf ihr eigenes Projekt die Finanzierung. „Die Kasse kann nicht den selbstbestimmten Patienten als Ziel haben und ihm dann vorgeben, entweder die Akte der IBM zu nehmen, oder gar keine Akte finanziert zu bekommen. Es gibt ein Arzt- und ein Apothekenwahlrecht, es braucht unbedingt auch ein Wahlrecht für den Gesundheitsakten-Provider“, fordert Bönig. Sowohl das Sozialgesetz (§ 68 SGB V) als auch die Satzung der TK lasse es zu, dass die Kasse mehrere EGA-Anbieter finanziert und sich der Patient seinen Anbieter aussuchen könne.

Es geht auch anders

Andere Krankenkassen lassen ihren Versicherten laut Bönig die Wahlfreiheit: „Beispielsweise bei der KKH, der Audi BKK oder der BKK EY kann der Patient frei wählen“, weiß er. Die klare Forderung des Vitabook-Geschäftsführers: „Die Krankenkassen müssen verpflichtet werden, ihren Versicherten eine Gesundheitsakte ihrer Wahl zu finanzieren. Insbesondere kann es keine freiwillige Satzungsleistung bleiben, sondern muss zu einer verpflichtenden Leistung werden.“

Viele offene Fragen

Doch selbst dann, wenn Patienten bei der „richtigen“ Kasse sind, krankt die Elektronische Gesundheitsakte noch an weiteren Schwierigkeiten. So ist bislang kein Arzt dazu verpflichtet, eine solche Akte zu pflegen. Da bereits heute Praxis- und Krankenhausärzte über zu viel Bürokratie klagen, dürfte sich deren Begeisterung für eine weitere Zusatzaufgabe in Grenzen halten. Als unbezahlte Dienstleistung werden die ärztlichen Standesorganisationen die Pflege einer Patientenakte mit Sicherheit nicht durchwinken. Hier sieht Bönig deshalb dringenden Handlungsbedarf: „Ärzte müssen verpflichtet werden, ihren Patienten anzubieten, die entstandenen Daten in deren Gesundheitsakte zu übertragen. Hier muss aus einem Nachfragerecht des Patienten eine Angebotspflicht des Arztes werden.“

Wettbewerb ist wichtig

Deutlich wird: Die Elektronische Gesundheitsakte krankt nicht an technischen Problemen, sondern an den Eigeninteressen von Krankenkassen und Standesorganisationen. Die Interessen der Patienten geraten dabei zunehmend aus dem Fokus. Einen fairen Wettbewerb im Bereich der Gesundheitsakten-Anbieter zuzulassen erscheint deshalb sinnvoll.