„Gesetze sind untereinander zum Teil nicht abgestimmt“

Geschäftsführerin Melanie Wendling
Geschäftsführerin Melanie Wendling: Der Bundesverband Gesundheits-IT – bvitg e. V. vertritt IT-Anbieter im Gesundheitswesen. (Foto: bvitg)

mednic.de spricht im Sommerinterview mit der Geschäftsführerin des Bundesverband Gesundheits-IT – bvitg e. V. Melanie Wendling. Die Juristin kritisiert, dass im Bundesgesundheitsministerium mit heißer Nadel gestrickt wird und warnt Start-ups davor, unvorbereitet in den deutschen Gesundheitsmarkt einzusteigen.

mednic: Wo drückt die bvitg-Mitgliedsunternehmen gegenwärtig am meisten der Schuh?

Wendling: Ich glaube, das sind drei Sachen, die aufeinander aufbauen: Erstens ist es bei uns wie in jeder Branche der Fachkräftemangel. IT-Spezialisten werden überall gesucht. Es gibt zu wenige, und die Wenigen, die es gibt, sind sehr teuer. Große Firmen sind da häufig im Vorteil. Sie bieten meist mehr Geld und teils interessantere Aufgaben. Sie locken Fachkräfte leider auch oft ins Ausland. Durch den Fachkräftemangel stehen manche Mitgliedsunternehmen sehr unter Druck. 
Gleichzeitig sind da die zahlreichen neuen Digitalgesetze, die die Gesetzgebenden gegenwärtig rasant in den Ring werfen. Hier werden klare Vorgaben zur Digitalisierung gemacht. Das ist prinzipiell super, denn das ist einfach die Basis für ein vernetztes Gesundheitssystem. Allerdings bringen die Vorgaben manche Firmen sehr unter zeitlichen Zugzwang. Denn – und hier kommen wir zum dritten Punkt – im Bundesgesundheitsministerium wird gerade sehr vieles gleichzeitig gemacht. Das hat zur Folge, dass Gesetze untereinander zum Teil nicht abgestimmt sind. Dieses zum Teil unabgestimmte Handeln belastet die Unternehmen in der Gesundheits-IT. Da würden wir uns sehr wünschen, dass da Besserung eintritt. 

Man muss der Industrie ausreichend Zeit zum Testen geben!

Melanie Wendling

mednic: Wird im Bundesgesundheitsministerium zu sehr mit heißer Nadel gestrickt? 

Wendling: Ja, hier wird leider oft vergessen, dass jede Neuerung oder Änderung neu programmiert werden muss. Dann erfolgen Testungen und mangels Zeit kommen Anwendungen meist sofort in den realen Versorgungsalltag. Aus den USA kennt man sogenannte „Playgrounds“, virtuelle Sandkästen, in denen probiert werden kann. So etwas müsste in Deutschland unbedingt auch etabliert werden. Und dann muss man der Industrie ausreichend Zeit zum Testen geben! Ansonsten kommt es zu Fehlern und Neuentwicklungen funktionieren schlecht oder nicht so, wie man es sich gewünscht hat. Das liegt dann aber nicht daran, dass es die Industrie nicht kann. Das hat oftmals eine ganze Kette von Ursachen und beginnt damit, dass schon am Anfang die Spezifikationen nicht ausreichend durchdacht wurden.

mednic: Dem bvitg sind große, renommierte Branchen-Unternehmen angeschlossen. Dient der Verband aber auch als Anlaufstelle für junge Gründer?

Wendling: Wir bieten Start-ups oder ganz jungen Unternehmen besondere Konditionen, weil wir natürlich wissen, dass am Anfang nicht immer das Geld da ist, um einem Verband beizutreten. Allerdings – es ist wie überall: Wir können unsere Leistungen nicht komplett kostenlos anbieten. Dennoch empfehle ich jedem Digital Health-Start-up, sich an unseren Verband zu wenden. Hier finden sie fachliche Expertise über alle Bereiche, vom Datenschutz über Interoperabilität bis zur Cloud. Wir haben hier immer jemanden, der sich mit diesen Themen bis in die tiefsten Tiefen – also gewissermaßen bis in den Marianengraben – auskennt. Außerdem haben wir hier bis in den Vorstand hinein Unternehmen, die von einem Start-up zu einem großen Unternehmen gewachsen sind. Die erklären jungen Anbietern gerne, was im deutschen Gesundheitswesen wichtig zu wissen ist, bevor man auf den Markt geht. Diesbezüglich dienen unsere Unternehmen auch als Sparring-Partner.

mednic: Würden Sie Studierenden oder Forschenden heute empfehlen, ein Digital Health-Start-up zu gründen? Der Bereich wird vielfach als sehr schwierig betrachtet.

Wendling: Ich sage immer, wer erfolgreich ein Restaurant eröffnen will, der muss auch wissen, dass man am Anfang Rücklagen für ein Dreivierteljahr haben muss. Man kann nicht davon ausgehen, dass vom ersten Tag an die Gäste kommen. Soll heißen: Jeder, der ein Start-up gründet oder eine Idee in einen Markt bringen will, sollte sich vorher gründlich informieren. Man wird nicht ernst genommen in dieser Branche, wenn schon im ersten Gespräch mit Interessenten oder Investoren deutlich wird, dass man eigentlich nicht weiß, wie das deutsche Gesundheitswesen funktioniert. 

mednic: Der bvitg gehört auch zum Beirat der Gematik und Sie sind hier stellvertretende Vorsitzende. Warum finden Sie es wichtig, sich hier zu engagieren?

Wendling: Ich engagiere mich bei der Gematik, weil die Industrie gehört werden muss. Das ist ganz, ganz wichtig. Zwar kann man über die Bedeutung des Beirats in der jetzigen Form diskutieren. Aber wir können hier Rückmeldungen zu neuen Ideen oder Initiativen geben. Das findet gegenwärtig zumindest teilweise Gehör. Wird dann am Ende doch etwas ganz anderes beschlossen, können wir zumindest auf unsere Anmerkungen verweisen. Wird ein Vorhaben schlecht umgesetzt, können wir sagen, dass wir es anders und besser gemacht hätten. Dann funktioniert zumindest das leider übliche Industrie-Bashing nicht. Ich wünsche mir aber dennoch, dass die Industrie besser in die Gematik-Prozesse eingebunden wird. Es sollte das Recht auf eine Stellungnahme geschaffen werden und auch eine Verpflichtung geben, dass diese Stellungnahme erwidert wird.

mednic: Sehen sie hier grundsätzlich eine positive Entwicklung, oder ist das weiterhin ein schwieriges Terrain? 

Wendling: Was die Arbeit mit der Gematik angeht, hat es in den vergangenen Jahren auf Arbeitsebene eine äußerst positive Entwicklung gegeben. Da werden wir gehört, da arbeiten wir wirklich gut zusammen, das macht meistens Spaß. 

Europa ist uns inzwischen insgesamt voraus. 

Melanie Wendling

mednic: Die Europawahl hat gerade stattgefunden. Was sollte sich im Gesundheitsbereich auf europäischer Ebene tun, damit die deutschen Digital Health-Anbieter nicht ins Hintertreffen geraten?

Wendling: Ich würde hinsichtlich der Europawahl eher sagen, was muss auf deutscher Ebene passieren, damit wir im europäischen Vergleich und Wettbewerb nicht ins Hintertreffen geraten. Für unsere Branche ist es das Wichtigste, dass man sich an internationalen Standards orientiert. Hier hat Deutschland in der Gesundheitsbranche zu lange sein eigenes Süppchen gekocht und das macht es uns gerade schwer. Ein Beispiel ist immer der Konnektor. Den gibt es in keinem anderen Land der Welt. Der wird nur für Deutschland gebaut. Also lange Rede, kurzer Sinn: Deutschland muss wegkommen von Eigenlösungen hin zu internationalen Standards. Das fehlt mir auch weitgehend im aktuell diskutierten Digitalagentur-Gesetz. Die unerfreuliche Folge: Europa ist uns inzwischen insgesamt voraus. 

bvitg Wendling
Im Gespräch mit mednic regt Wendling an, in Deutschland „digital playgrouds“ wie in den USA zu schaffen. (Foto: bvitg)

mednic: Künstliche Intelligenz (KI) ist in der IT gegenwärtig das alles beherrschende Thema. Wie wird sich ihrer Einschätzung nach die Digital Health-Branche in nächster Zeit durch KI verändern?

Wendling: Die Gesundheitsversorgung insgesamt wird sich verändern, und das ist für mich das Entscheidende. Dazu gehört auch, dass sich alle, die im Gesundheitsbereich arbeiten, verändern müssen. Wir alle müssen lernen, mit neuen Technologien umzugehen. Insgesamt bin ich aber davon überzeugt, dass KI für die Versorgung einen riesigen Vorteil bringen wird.
Das Wissen der Welt wächst rasant. Das betrifft auch das medizinische Wissen. Das kann niemand mehr nachhalten, da kann ich auf Fortbildungen gehen, so viel ich will! Das Wissen ist einfach schneller. Da kann eine KI für mich viel Unterstützungsleistung bringen, Studien durchsuchen und auch Diagnosen stellen. Vielleicht weist mich die KI auf eine ganz seltene Erkrankung hin, die ich auch als Arzt kaum kennen kann. Ich glaube, das wird die Medizin und auch den Pharmabereich revolutionieren, man denke hier zum Beispiel an die unterschiedliche Wirkung von Medikamenten bei Männern und bei Frauen. Mit KI wird man rasant besser erkennen, für welche Patienten, welche Medizin die Geeignete ist. Ein weiteres, wichtiges Stichwort ist hier personalisierte Medizin. Auch damit wird die Gesundheitsversorgung entscheidend verbessert, aber es wird eher nicht preiswerter.

mednic: Sitzen die zumeist mittelständischen Medizintechnikhersteller, die auch digitale Lösungen anbieten, bei KI bereits mit im Boot, oder ist das für viele noch Neuland? 

Wendling: Nein, wir haben auch viele Mittelständler, die mit KI schon sehr früh angefangen haben. Sie sehen, dass ihre Software mit KI einen Mehrwert bieten kann, und sie nutzen KI auch schon bei der Entwicklung, weil das zum Teil auch den Fachkräftemangel etwas abmildern kann. Kurzum, nach meiner Einschätzung hat der KI-Einsatz nichts mit Mittelstand oder großen Firmen zu tun, sondern eher damit, ob ich mutig-innovativ orientiert bin, oder ob ich den Markt eher vorsichtig-konservativ begleite.

Die DMEA 2025 wird anders sein als die DMEA 2024.

Melanie Wendling

mednic: Der bvitg hat mit der DMEA ein echtes Digital Health-Zugpferd aufgebaut, die diesjährige Messe hat alle Erwartungen übertroffen. Kürzlich kündigte aber auch die Messe Medica an, ab diesem Jahr mit dem „Innovation Forum“ ein stärkeres Augenmerk auf Digital Health zu richten. Wird das Thema einfach mehr Mainstream in der Branche, oder erwarten sie angesichts des DMEA-Erfolgs eine stärkere Veranstaltungs-Konkurrenz?

Wendling: Also, ich bin da relativ gelassen. Im Rheinland sagt man immer ‚Konkurrenz belebt das Geschäft‘! Ein Vorteil der DMEA ist, dass sie immer moderat gewachsen ist.  Wenn man schnell sehr groß wird, dann kann man das womöglich nicht mehr managen. Durch dieses moderate Wachstum sind wir auch in einem stetigen Wandel. Die DMEA 2025 wird anders sein als die DMEA 2024. Insgesamt finde ich es sogar sehr gut, dass das Thema digitale Gesundheit heute eine viel größere Aufmerksamkeit bekommt. Dass Digital Health mehr in die Öffentlichkeit kommt und es positiv besetzt ist, das ist aus meiner Sicht die Hauptsache. Wenn wir immer nur über Gefahren reden, dann bringt uns das als Gesellschaft nicht weiter.