Der jährlich von der Bayerischen Telemedallianz veranstaltete „Bayerische Tag der Telemedizin“ hat sich zu einem der zentralen Fachkongress und Branchentreff für Experten und Interessierte entwickelt. Mednic.de sprach im Vorfeld der Veranstaltung mit Telemedallianz-Geschäftsführer Professor Dr. med. Siegfried Jedamzik über die Auswirkungen der jüngsten Beschlüsse des Deutschen Ärztetages auf die Telemedizin und über das diesjährige Kongressprogramm in München.
Mednic.de: Wird sich die Videosprechstunde nach den jüngsten Beschlüssen auf dem Deutschen Ärztetag jetzt bundesweit etablieren?
Jedamzik: Ich gehe davon aus, dass Videosprechstunden zukünftig zum Versorgungsalltag gehören werden. Zu groß ist einfach der Nutzen für Patienten und für Ärzte. Auch zeigen repräsentative Befragungen, dass sowohl bei Ärzten als auch bei Patienten eine hohe Bereitschaft zu Nutzung von Videosprechstunden vorliegt. So begrüßen etwa nach dem aktuellen Digitalisierungsreport der DAK mehr als 80 Prozent der Ärzte Videosprechstunden und würden diese auch selbst anwenden.
Und nicht zu vergessen ist, dass wir mit einem zunehmenden Mangel an Ärzten, medizinischen Fachangestellten und Pflegekräften konfrontiert sind. Videosprechstunden können dieses Problem zwar nicht lösen, aber zumindest einen gewissen Ausgleich schaffen. Auch vor diesem Hintergrund werden wir zukünftig nicht um Videosprechstunden herumkommen und diese verstärkt einsetzen müssen. Insofern bin ich fest davon überzeugt, dass Videosprechstunden ein Erfolgsmodell sein werden und sich auf jeden Fall etablieren werden.
Mednic.de: Wie lange wird diese Entwicklung dauern?
Jedamzik: Wie schnell dies der Fall sein wird, kann ich aktuell noch nicht abschätzen. Sicherlich wird es etwas Zeit brauchen. Sie kennen vielleicht die Diffusionskurven, mit denen die Verbreitung von Innovationen im Zeitverlauf dargestellt werden. Anfangs nutzen nur einige wenige Pioniere eine Neuerung, und dann kommen immer mehr Anwender hinzu. So ähnlich wird es sicherlich auch mit Videosprechstunden sein.
Aber ich denke, dass der Erfurter Ärztetag mit der Entscheidung zur Lockerung des Fernbehandlungsverbots ein wichtiges Signal gesetzt hat. Hürden zur Nutzung von Videosprechstunden fallen damit weg. Für Ärzte wird die Nutzung von Videosprechstunden einfacher. Auch wird sich das Spektrum der Einsatzmöglichkeiten erhöhen. Alles in allem also positive Voraussetzungen für die Verbreitung und die Etablierung von Videosprechstunden.
»Die neue Freiheit nicht durch zu viele Bedingungen wieder einschränken«
Mednic.de: Was sollte als nächstes geschehen?
Jedamzik: Als nächster Schritt ist aus meiner Sicht nun wichtig, dass die Erfurter Beschlüsse möglichst schnell und großzügig von den einzelnen Landesärztekammern aufgegriffen und in ihre Berufsordnungen aufgenommen werden. Schnell deshalb, damit den nun beginnenden Aktivitäten nicht der Wind aus den Segeln genommen wird. Großzügig deshalb, damit die neue Freiheit für Videosprechstunden nicht durch zu viele Bedingungen und Einschränkungen wieder eingeschränkt wird. Dies hatten wir ja mit der bisherigen beziehungsweise derzeit noch aktuellen Regelung. Ich meine damit die Videosprechstunden, die seit April 2017 angeboten werden können. Diese sind ja auf bestimmte Arztgruppen und Indikationen beschränkt. Eine derartige Beschränkung wird aus meiner Sicht nicht mehr benötigt und behindert nur die weitere Verbreitung von Videosprechstunden.
Mednic.de: Warum sollte ein niedergelassener Arzt eine Videosprechstunde anbieten?
Jedamzik: Zum einen, weil es für mich als Arzt eine echte Erleichterung darstellt. So kann ich mir etwa unnötige Hausbesuche ersparen. Zum anderen – und das ist für uns Ärzte ja ganz wichtig und steht im Mittelpunkt unserer Profession -, weil ich damit häufiger mit Patienten -zumindest mit diejenigen, bei denen ich einen besonderen Bedarf erkennen kann – in Kontakt treten kann beziehungsweise, weil ich mich damit noch intensiver um meine Patienten kümmern kann.
Eine Videosprechstunde verschafft mir als Arzt auch die Möglichkeit, dass ich meinen Patienten besser kennenlernen kann. Was ich damit meine ist, dass ich nicht darauf angewiesen bin, dass der Patienten zu mir in die Praxis kommt und ich ihn ausschließlich in den wenigen Minuten sprechen kann. Wie bei einer Längsschnittstudie erhalte ich immer wieder Informationen, die ich bei einer bloßen Sprechstunde in meiner Praxis nicht erhalten hätte.
»Videosprechstunden kommen dort zum Einsatz, wo sie sinnvoll sind«
Mednic.de: Gehen Sie davon aus, dass Fehldiagnosen zunehmen werden?
Jedamzik: Zunächst die gute Nachricht: Betrachtet man die Behandlungsfehler-Statistik der Bundesärztekammer liegt die Zahl der Fehler im Verhältnis zur Anzahl der jährlichen Arzt-Patienten-Kontakte im Promillebereich. Die Wahrscheinlichkeit durch einen Behandlungsfehler zu Schaden zu kommen, ist also äußerst gering.
Nun die schlechte Nachricht: Fehler passieren immer wieder, auch in der Medizin. Trotz Leitlinien, Qualitätszirkeln, Fehleranalysen, verpflichtenden Weiterbildungen werden diese leider kaum vollständig zu vermeiden sein. Hierfür sind der menschliche Körper und der menschliche Geist viel zu komplex, als dass man als Arzt immer sicher sein kann, die richtige Diagnose zu treffen. Hinzu kommt, dass man als Arzt ja auch nicht immer alle relevanten Angaben von einem Patienten erhält – sei es aus Unwissenheit, Vergesslichkeit, Scham oder sonstigen Gründen. Oder einfach, weil der Patient sich nicht richtig ausdrücken kann. Hieran werden auch Videosprechstunden nichts ändern.
Dass es jedoch durch Videosprechstunden zu mehr Fehldiagnosen kommt, glaube ich nicht. Denn Videosprechstunden sollen und werden ja nicht den face-to-face-Kontakt oder den physischen Kontakt mit einem Patienten vollständig ersetzen. Videosprechstunden sind nur ein Weg der Kommunikation mit dem Patienten. Sie kommen dort zum Einsatz, wo diese sinnvoll sind und wenn es sich um geeignete Fälle bzw. geeignete Indikationen handelt. So ist beispielsweise bekannt, dass mit Hilfe von Videoübertragungen Hautveränderungen sehr gut verfolgt und Diagnosen sichergestellt werden können. Bei anderen Erkrankungen oder wenn ich mir als Arzt im Unklaren bin oder wenn ich eine physische Untersuchung für erforderlich halte, werde ich den Patienten auf jeden Fall zu mir in die Praxis einbestellen beziehungsweise einbestellen müssen. Durch Videosprechstunden wird die Versorgung meiner Patienten somit nicht eingeschränkt, sondern einfach um weitere Möglichkeiten erweitert.
»E-Health ist bislang nur rudimentär in den Curricula des Medizinstudiums zu finden«
Mednic.de: Ihr Kollege Dr. med. Christoph F.-J. Goetz wird auf dem Kongress über telemedizinisches Wissen als ärztliche Chance und Herausforderung referieren. Besteht hier ihrer Meinung nach Nachholbedarf bei einigen Kollegen?
Jedamzik: Die Kenntnis und der Umgang mit digitalen Versorgungslösungen erfordert von allen Akteuren des Gesundheitswesens – somit auch von Ärzten – entsprechendes Know-how. Um für digitale Anwendungen und Prozesse ein Verständnis entwickeln zu können sowie um mit diesen adäquat umgehen zu können, kommt dem Erwerb derartiger Kompetenzen eine Schlüsselrolle zu.
Wie den Medien immer wieder entnommen werden kann, hinkt Deutschland bei der Digitalisierung in vielen Bereichen hinterher. Dies betrifft auch die Ausbildung digitaler Kompetenzen. E-Health, Gesundheitstelematik und Telemedizin in Theorie und Praxis sind bislang nicht oder bestenfalls nur rudimentärer in den Curricula des Medizinstudiums zu finden. Ähnliches gilt auch für Pflegekräfte, medizinische Fachangestellte (MFA), Therapeuten, Sozialversicherungsfachangestellte und andere Ausbildungsberufe. Auch dort lassen sich aktuell keine hinreichenden Berührungspunkte zu den genannten Themenbereichen erkennen.
Begibt man sich gezielt auf die Suche nach Weiterbildungsformaten mit Schwerpunkt E-Health, Gesundheitstelematik und Telemedizin, stößt man auf ein überschaubares Angebot. Oftmals handelt es sich um kurze Einführungsseminare oder um Lehrgänge, bei denen vor allem technische Inhalte vermittelt werden. Auch auf dem Markt der Lehrbücher finden sich keine umfassenden und leicht verständlichen Werke zu diesen Themengebieten. Häufig werden einfach nur Projekt vorgestellt, für deren Verständnis schon ein gewisses Hintergrundwissen erforderlich ist.
Zu fordern ist daher, das erstens Telemedizin in die Lehrpläne der der Bildungseinrichtungen für Ärzte und medizinisches Fachpersonal aufgenommen wird und zweitens, dass Bildungsangebote zur Telemedizin zielgruppenspezifisch gestaltet sein müssen. So hat beispielsweise ein Arzt andere Anforderungen als eine angehende Krankenschwester.
Apropos Frauen: Gerade im Gesundheitswesen haben wir die fast schon paradoxe Situation, dass ein Großteil der hier Beschäftigten weiblich ist. Betrachtet man dagegen die Telemedizin und Gesundheits-IT fällt auf, dass wir uns in einem von Männern dominierten Bereich befinden. Daher ist drittens zu fordern, dass Ausbildungsformate entwickelt werden, die speziell auf die Anforderungen von Frauen zugeschnitten sind.
Wie gesagt, es gibt eine Vielzahl von Defiziten bei der Vermittlung digitaler bzw. telemedizinischer Kompetenzen an Ärzte. Wir von der Bayerischen TelemedAllianz haben daher den Lehrgang „Gesundheitstelematik“ geschaffen. Dieser ermöglicht in einfacher und klar strukturierter Weise einen Einstieg in die Welt der Telemedizin. Zusätzlich bieten wir in unserem Showroom Führungen an, bei denen wir telemedizinische Anwendungen und Prozesse hautnah demonstrieren. Beide Angebote stehen nicht nur Ärzten, sondern allen an Telemedizin interessierten Menschen zur Verfügung.
»Osteuropäische Initiativen aus erster Hand kennenlernen«
Mednic.de: Sie werden auf dem Bayerischen Tag der Telemedizin außerdem beleuchten, welche digitalen Fortschritte im Gesundheitsbereich unsere Nachbarn in Osteuropa machen. Können wir in Deutschland davon lernen?
Jedamzik: Ich bin schon sehr gespannt, welche Beispiele aus der Praxis uns vorgestellt werden. Denn der Blick von uns Mitteleuropäern richtet sich – wohl historisch bedingt – überwiegend nach Westen. Vieles was in den Ländern Osteuropas geschieht, bekommen wir nicht so richtig mit – oder wollen es vielleicht nicht so mitbekommen. Aber gerade in vielen dieser Länder hat sich in den letzten 20 Jahren eine unglaubliche Dynamik breitgemacht. Daher bietet unser Kongress eine Chance, osteuropäische Initiativen aus erster Hand kennenzulernen.
Mednic.de: Wird sich ihrer Einschätzung nach das Bild des Arztes in Öffentlichkeit durch die fortschreitende Digitalisierung verändern?
Jedamzik: Primäre Aufgabe eines Arztes ist, Menschen zu helfen und Menschen zu heilen. Hierin ist er Experte. Er ist der Ansprechpartner, wenn es um die persönliche Gesundheit geht. Dies ist sein Bild in der Öffentlichkeit. Schon seit je her. Ich glaube nicht, dass sich dieses Bild durch die Digitalisierung grundlegend ändert. Denn vergessen Sie nicht: Technik ist nur ein Hilfsmittel. In vielen Fällen zwar ein äußerst nützliches Hilfsmittel, aber ersetzen kann die Technik den Arzt als Person und sein Wissen nicht. Technik dient vor allem der Unterstützung ärztlichen Handelns.
Vielleicht muss die Frage aber eher lauten, wie sich das Bild des Arztes verändert, wenn er sich digitalen Entwicklungen verschließt. Denn von einem Arzt wird schließlich auch erwartet, dass er stets auf dem neuesten Stand ist. Die Öffentlichkeit wird erwarten, dass sich Ärzte diesen Entwicklungen nicht verschließen, sondern diese vielmehr als Chance begreifen und zum Wohle der Patienten nutzen. Auch daher waren die Beschlüsse des Ärztetages zur Lockerung des Fernbehandlungsverbots ein wichtiges Zeichen. Denn sie zeigen, dass die Digitalisierung in der Ärzteschaft angekommen ist und dass die Ärzte den digitalen Wandel aktiv mitgestalten wollen. Aber auch der eingangs erwähnte DAK-Digitalisierungsreport stimmt zuversichtlich. Denn er zeigt deutlich, dass Ärzte offen für die Digitalisierung sind.
Der Bayerische Tag der Telemedizin findet am 21. Juni 2018 in München statt. Weitere Informationen und Anmeldung