Der deutsche Gesundheitsmarkt spielt weltweit betrachtet zwar ganz vorne mit. Die Europäische Medizinprodukte-Verordnung und unkalkulierbar lange Zulassungszeiten führen jedoch zu deutlich weniger Investitionen in Forschung und Entwicklung.
Auf Einladung des Naturwissenschaftlichen und Medizinischen Instituts an der Universität Tübingen (NMI), trafen sich kürzlich über 60 Vertreter von Medizintechnikunternehmen sowie aus Forschungsinstitutionen zum Dialog mit der Parlamentarischen Staatssekretärin im Bundesgesundheitsministerium Annette Widmann-Mauz.
Thema der Expertenrunde war die aktuelle Situation der Gesundheitsindustrie. Bei Patenten und Welthandelsanteil liegt Deutschland hier auf Platz 2 hinter den USA. Rund ein Drittel ihres Umsatzes erzielen die deutschen Medizintechnikhersteller mit Produkten, die höchstens drei Jahre alt sind. Allerdings sehen die Unternehmen diese Position durch immer aufwändigere Zulassungsverfahren und hohe Regulierungsanforderungen bedroht.
Unter der Überschrieft „Wie innovationsfreundlich ist der Gesundheitsmarkt?“ berichteten die Teilnehmer aus überwiegend kleinen und mittelständischen Unternehmen von ihren Erfahrungen bei der Einführung neuartiger Produkte und gaben der Staatssekretärin eine Liste an Verbesserungswünschen mit auf den Weg.
Probleme im Bereich Zulassung ernst nehmen
An den Anfang ihrer Ausführungen stellte Annette Widmann-Mauz einige Zahlen zur Gesundheitsindustrie mit den Medizintechnik-, Arzneimittel-, Heilmittel- und Diagnostika-Herstellern. Im internationalen Vergleich nehme Deutschland einen der vordersten Plätze ein. Durchschnittlich investierten die forschenden Medizintechnikunternehmen rund neun Prozent des Umsatzes in Forschung und Entwicklung. Bei Pharmaunternehmen liegt der Betrag bei circa 12 bis 18 Prozent. Der Innovations- und Forschungsstandort Deutschland spiele damit für die Gesundheitsindustrie eine besonders wichtige Rolle. „Diese Zahlen belegen eindrücklich die Innovationskraft der Branche“, betonte Widmann-Mauz. Gleichwohl müsse man Probleme, beispielsweise im Bereich Zulassung von Medizinprodukten, sehr ernst nehmen, um diese Spitzenposition nicht zu gefährden.
Europäische Medizinprodukte-Verordnung lähmt
Die Beiträge der Teilnehmer zeichneten ein etwas anderes Bild und setzen ihren Fokus auf die aktuellen Rahmenbedingungen: Steigende Kosten durch strengere regulatorische Auflagen und unkalkulierbar lange Zulassungszeiten führen zu deutlich weniger Investitionen in Forschung und Entwicklung. Diese Situation wird sich durch die im Mai 2017 verabschiedete und nach einer dreijährigen Übergangsfrist ab Mitte 2020 gültige Europäische Medizinprodukte-Verordnung (Medical Device Regulation, MDR) erwartungsgemäß noch verschärfen. Insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen bedeutet sie eine existenzielle Herausforderung. Nach einer Umfrage unter 500 Medizintechnikunternehmen in der Region Tuttlingen sehen sich 40 bis 60 Prozent der kleinen und mittelständischen Unternehmen durch die neue Verordnung vor dem Aus.
Vorbild Japan
Als anwendungsorientiertes Forschungsinstitut, das mit Firmen aus den Bereichen Medizintechnik, Pharma und Biotechnologie arbeitet, weiß das NMI um diese Probleme. „Wir haben deutlich weniger Forschungsaufträge aus der Medizintechnik und spüren die zurückhaltende Haltung vieler Unternehmen. Gleichzeitig erkennen wir die Anstrengung der Firmen, sich der Herausforderung zu stellen. Unsere Absolventen und Mitarbeiter gehen vorwiegend in die Qualitätssicherung oder werden für klinische Studien und für Zulassungen gesucht, weniger für die Forschung. Vor fünf Jahren war das genau anders herum.“, unterstrich Professor Dr. Hugo Hämmerle, Institutsleiter des NMI sowie Initiator und Moderator der Expertenrunde, den aktuellen Trend. Dass es auch anders geht, zeige ein Blick nach Japan. „Das Land mit dem stärksten demographischen Wandel hat den großen Patientennutzen durch innovative Therapien erkannt. Im Bereich Stammzelltherapien und regenerative Medizin setzt Japan auf eine deutliche Verkürzung der Zulassungsprozesse und strebt die Weltmarktführung in diesem riesigen Markt an.“
Zehn Jahre Wartezeit sind inakzeptabel
Aus der Praxis deutscher Medizintechnikunternehmen berichtete Reinhard Rubow, Vorstand der Retina Implant AG, der Staatssekretärin über seine Erfahrungen bei der Zulassung. „Für unser ambulantes Produkt TES, für die wir eine Zulassung nach Paragraf 137e SGB V (Erprobungsregelung) beantragt haben, müssen wir von einem Zeitraum von zehn Jahren bis zur Patientenversorgung ausgehen. Das ist absolut inakzeptabel zumal die Absicht des Gesetzgebers eine Beschleunigung war. Es gibt von den Medizintechnikherstellern konkrete Vorschläge für die Erprobung neuartiger Behandlungsmethoden mit überschaubaren Kosten und verkürzten Fristen.“
Annette Widmann-Mauz hörte den Praxisberichten aufmerksam zu und nahm sich Zeit für einen intensiven Dialog. „Ich verstehe die Unsicherheit und die Sorge, die momentan aufgrund der neuen Verordnung bei den deutschen Medizintechnikunternehmen vorherrscht“, betonte Widmann-Mauz. „Das Gesundheitsministerium begleitet die Umsetzungsprozesse der neuen Verordnung daher sehr eng und wir tun alles für eine praxistaugliche Einführung. Die existenzielle Bedeutung der Themen Zulassung, Fristen und Kosten für die Medizintechnikhersteller ist uns bewusst.“, versprach die Staatssekretärin. Eine konkrete Fördermaßnahme für die Gesundheitsindustrie sei der von der Bundesregierung 2016 aufgelegte Investitionsfonds für neue Versorgungsformen und für Versorgungsforschungsprojekte. Ziel des Fonds ist eine qualitative Weiterentwicklung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland. „Hierfür stellen wir jährlich eine Fördersumme von 300 Millionen Euro zur Verfügung. Dabei sind 225 Millionen Euro für die Förderung neuer Versorgungsformen und 75 Millionen Euro für die Versorgungsforschung vorgesehen.“, berichtete Annette Widmann-Mauz.
Frühzeitige Abstimmung mit den Zulassungsbehörden
Gleichzeitig warb sie für die neue EU-Verordnung um Verständnis. „Die Patientensicherheit muss für die Unternehmen der Medizintechnologie oberste Priorität haben. Hier bietet die neue Verordnung wesentliche Verbesserungen. Mit den neuen Regelungen wird das europäische Sicherheitsniveau auf einen hohen Standard angehoben.” An die Adresse der Unternehmen richtete Widmann-Mauz die konkrete Empfehlung, sich eng und frühzeitig mit den Zulassungsbehörden abzustimmen. Auch die Inanspruchnahme von Beratungsleistungen zum Zulassungs- und Erstattungsprozess sei ratsam, um alle Möglichkeiten zur Beschleunigung des Prozesses auszunutzen. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) und das Paul-Ehrlich-Institut böten hier wertvolle Hilfestellung.