Die Digitalisierung beherrscht die Medizin längst mehr, als manche denken. Ein Arzt wird heute nicht mehr als ‚Halbgott in Weiß’ angesehen, sondern zunehmend als Coach für Gesundheitsfragen. Ein spannendes Gespräch mit der Hamburger Ärztin und Digital-Enthusiastin Dr. Karin Kelle-Herfurth.
Dr. Karin Kelle-Herfurth ist Rehamedizinerin, Gesundheitsökonomin (MHBA) und bezeichnet sich als Digital-Enthusiastin. Aktuell ist die 37-jährige in der Gründungsvorbereitung ihres Unternehmens. Ihre Schwerpunkte liegen in der fachmedizinischen Beratung mit Online-Konsultationen sowie in der Organisations- und Prozessbegleitung für Unternehmen, die Veränderungen im (digitalen) Wandel der Arbeitswelt gesundheitsbewusst gestalten wollen.
Kelle-Herfurth war zuvor mehrere Jahre in der Akut-, Rehabilitations- und Präventivmedizin in zwei BG Kliniken der gesetzlichen Unfallversicherung tätig, zuletzt als Oberärztin im Unfallkrankenhaus Hamburg, bevor sie in die Arbeits- und Betriebsmedizin wechselte.
Aus ihrer Sicht müssen Barrieren durch Sektorengrenzen abgebaut werden. Innovative E-Health-Lösungen würden den Informationstransfer in der Medizin verbessern und die Kommunikation unterstützen. Sie setzt sich dafür ein, dass Patienten örtlich und zeitlich unabhängig Zugang zu medizinischen Informationen erhalten. Gleichwohl müsse der Staat die Patienten schützen und beispielsweise das ungenierte Abgreifen sensibler Gesundheitsdaten durch App-Anbieter regulieren, sagt Dr. Kelle-Herfurth im Interview mit mednic.de
Mednic.de: Frau Kelle-Herfurth, Sie bezeichnen sich als Digital-Enthusiastin. Was genau verstehen Sie darunter?
Dr. Kelle-Herfurth: Enthusiastisch zu sein bedeutet, etwas mit Begeisterung zu tun, für etwas zu „brennen“, wie man so schön sagt. Meine Leidenschaft ist einerseits die Arbeit mit und für Menschen, wobei ich mich für die Gesundheit und Teilhabe der Menschen im Lebens- und Arbeitsumfeld einsetze, schließlich bin ich Medizinerin. Andererseits bin ich auch eine Enthusiastin im Hinblick auf modernste Informations- und Kommunikationstechnologien. Die Entwicklungen im Gesundheitswesen verfolge ich seit einigen Jahren. Ich bin fasziniert von smarten, digitalen Lösungen und automatisierten Workflows, die Abläufe effizienter machen. Hier sehe ich aus medizinischer und ökonomischer Sicht ein Riesenpotential für Verbesserungen in der Gesundheitsversorgung – sowohl im individuellen als auch im gesellschaftlichen Kontext.
Mednic.de: Was schätzen Sie prozentual: Wie viele Ärzte in Deutschland halten telemedizinische Angebote für einen Zugewinn? Wie viele sehen darin eher eine zusätzliche Belastung mit ungeklärten Investitionskosten und fraglichen Verdienstmöglichkeiten?
Dr. Kelle-Herfurth: Ich schätze, dass heute 60 bis 70 Prozent der Ärzte telemedizinischen Angeboten und Healthcare-IT-Lösungen aufgeschlossen gegenüber stehen. Dabei gibt es sicherlich Unterschiede zwischen Krankenhausärzten und niedergelassenen Medizinern sowie zwischen der jüngeren und älteren Generation. Das kann unter anderem auf Erfahrungen im Umgang mit neuen Medien zurückgeführt werden. Praxisärzte sind im Schnitt etwas konservativer als Krankenhausärzte. Im stationären Bereich wurden digitale Lösungen beispielsweise in der Radiologie oder für die OP-Planung schon sehr früh entwickelt und auch Telemedizin gibt es in einigen großen Häusern schon seit Jahren im regionalen Netzwerkverbund.
Allerdings mangelt es andererseits auch in Kliniken nach wie vor an der durchgehenden Abbildung medizinischer und administrativer Prozesse. Funktions- und Verwaltungsbereiche, Materialwirtschaft, Finanzbuchhaltung sind in den bestehenden Krankenhausinformationssystemen bislang unzureichend integriert. Es zeigen sich auch ganz widersprüchliche Entwicklungen. So nutzen wir heute einerseits High-End CT-Diagnostik und Roboter im OP, während andererseits vielerorts noch Papierakten vorherrschend sind.
»Mehrbelastung durch digitale Lösungen«
Viele Praxisärzte, die zeitlich ohnehin stark belastet sind, empfinden zudem die Informationsflut, mit der sie durch immer mehr digitale Lösungen konfrontiert sind, als Mehrbelastung. Und nicht zuletzt sind viele rechtliche Fragen – beispielsweise im Hinblick auf medizinische Apps – noch ungeklärt. Das führt teilweise zu Verunsicherung oder auch Ablehnung. Die Investitionskosten für telemedizinische Angebote sind gering, allerdings werden die Verdienstmöglichkeiten im Rahmen der vertragsärztlichen Regelversorgung nach den aktuell festgelegten, abrechnungsfähigen Leistungsziffern für Videosprechstunden bemängelt.
Mednic.de: Ist es aus ihrer Sicht notwendig, dass teils recht ähnliche telemedizinische Angebote erst einmal jahrelang und oftmals sogar in nahezu jedem Bundesland erprobt werden müssen?
Dr. Kelle-Herfurth: Vielleicht sind wir in Deutschland zu hundertprozentig eingestellt. Wir stehen in der Tat vor der Problematik, dass in rasanter Geschwindigkeit technische Innovationen mit möglicherweise hohem potenziellen Nutzen entwickelt werden, deren Anwendung jedoch durch jahrelange Prüf- und Zulassungsverfahren massiv erschwert wird. Allerdings geht es auch darum, aus dieser Masse tatsächlich medizinisch sinnvolle Innovationen herauszufiltern. Unser Gesundheitssystem ist recht kompliziert und stark reguliert durch vielfältige gesetzliche Vorgaben und Finanzierungssysteme in den verschiedenen Sektoren. Unsicherheiten im Hinblick auf Datenschutz und IT-Sicherheit sind weitere Aspekte. Es ist auch nicht verwunderlich, dass es unter all den Innovationen bislang nur wenige medizinische Anwendungen gibt, die in den Versorgungsalltag integriert werden können.
»Innovationen sind überholt, bevor sie auf den Markt kommen«
Denn gerade für den Zugang zum ersten Gesundheitsmarkt müssen große Hürden überwunden werden. Fakt ist nun einmal, dass Krankenkassen nach der Sozialgesetzgebung grundsätzlich gehalten sind, nur Kosten für medizinische Leistungen zu übernehmen, deren Wirksamkeit und Nutzen wissenschaftlich belegt ist. Allerdings gibt es im Digital Health-Bereich bislang keinen Standard, um den Vorteil für die Gesundheitsversorgung nachzuweisen. Klinische und gesundheitsökonomische Studien stellen zeitliche und finanzielle Barrieren dar, die beispielsweise ein junges Startup ohne Fördermittel oder Beteiligung von Investoren kaum übersteht. Da Zulassungsverfahren oft vier bis fünf Jahre dauern, ist zudem die einstige Innovation dann vermutlich schon wieder überholt, bevor sie überhaupt die Chance hat, auf den Markt zu kommen und weiterentwickelt zu werden. Kommt Hardware ins Spiel, bedarf es zudem einer Medizinproduktezertifizierung, was eine weitere Hürde ist. Kurzum: Die heutigen Prüf- und Zulassungsverfahren stehen aufgrund ihrer Trägheit dem enormen Innovationsdruck entgegen. Auch gesundheitspolitisch sollten wir einen Zahn zulegen, alternative Finanzierungswege und gezielte Förderprogramme entwickeln, damit Deutschland nicht länger abgehängt wird.
Mednic.de: Welche telemedizinischen Angebote oder Lösungen sollten baldmöglichst flächendeckend vorhanden sein, weil sie Kosten senken, Patienten keine verschlechterte Leistung bieten und Ärzte im Krankenhaus oder in der Praxis entlasten?
Dr. Kelle-Herfurth: Neben der aktuell wieder in die Schlagzeilen geratenen eGK sollte sich das Angebot der telemedizinischen Visite schnellstmöglich breit durchsetzen. Insbesondere in strukturschwachen Regionen mit wenig Hausärzten halte ich dies für sehr sinnvoll, denn ein Teil der Hausbesuche und Pflegeheimbesuche erfordert keine ärztliche Präsenz, wodurch zeitliche Ressourcen geschont und Kosten reduziert werden könnten, und das ohne qualitative Einbußen in der Versorgung. Aber auch in Ballungsgebieten mit hoher Ärztedichte sehe ich Videosprechstunden als ergänzendes Beratungsangebot als sinnvoll. Außerdem würden es sicher viele Patienten begrüßen, medizinische Fragen mit ihrem Arzt auch mal außerhalb der regulären Sprechstundenzeiten klären zu können.
»Vorteile durch die Integration der telemedizinischen Visite«
Die Gesellschaft ändert sich, Lebens- und Arbeitswelten gehen zunehmend ineinander über und die Menschen arbeiten heute flexibler als vor zwanzig Jahren. Demzufolge haben Patienten höhere Ansprüche an Flexibilität, die auch vor der ärztlichen Beratung nicht halt macht. Daher sollte im ärztlichen Bereich durchaus über neue Arbeitskonzepte nachgedacht werden, zumal sich auch für sie durchaus Vorteile durch die Integration der telemedizinischen Visite ergeben könnten. Die Online-Terminvereinbarung schreit in diesem Zuge geradezu nach einer flächendeckenden Etablierung. Das bringt viele Erleichterungen sowohl für das Personal in den Arztpraxen als auch für die Patienten mit sich. Obendrein ist dies ein Service, der sehr geschätzt wird. Ein weiterer Punkt ist der elektronische Medikationsplan, verbunden mit dem elektronischen Rezept. Alleine im Sinne der Arzneimittelsicherheit sollte diese Entwicklung mit großem Druck vorangetrieben werden.
Mednic.de: Fitness-Tracker, Smartwatch & Gesundheitsapps sind heute bereits breit etabliert. Viele dieser Lösungen fördern die Prävention, manche unterstützen sogar (chronisch) Kranke. Letztendlich geht es hier aber um sehr persönliche Daten. Gehen Hardware-Hersteller und App-Anbieter mit diesen Informationen ausreichend sensibel um?
Dr. Kelle-Herfurth: Hier gibt es seriöse Anbieter, aber auch viele schwarze Schafe. Das Health-Kit von Apple halte ich beispielsweise sicherheitstechnisch für weniger bedenklich als andere Angebote, wo sich oft auch Drittanbieter an ermittelten Daten bedienen. Allerdings lässt sich das auch hier nicht hundertprozentig ausschließen. Vielen Patienten dürfte das Risikopotential nicht bewusst sein, dem sie sich bei einigen Produkten und Apps aussetzen. Das ist in der Tat ein Riesenproblem, denn wie weit ist das überhaupt überschaubar und regulierbar? Denken Sie zum Beispiel an Firmenübernahmen, hier werden Patientendaten mitverkauft. Theoretisch könnte ja irgendwann auch eine Versicherungsgesellschaft mit ins Spiel kommen, das kann für den Einzelnen durchaus erhebliche Nachteile haben. Sicherlich kann und soll die Politik nicht überall die Finger mit im Spiel haben, dennoch muss sie das Abgreifen sensibler Gesundheitsdaten in gewisser Weise regulieren. Hier sollten Gesundheitsexperten und Verbraucherzentralen mit eingebunden werden. Man kann Patienten nicht ihre Eigenverantwortung zum Schutz ihrer Daten abnehmen, aber sie müssen sachlich und auf verständliche Weise informiert werden, auf was sie achten sollten. Es wäre wünschenswert, wenn engagierte Ärzte in ihrer Praxis künftig auch eine Auswahl an seriösen Apps zu bestimmten Krankheitsbildern vorstellen könnten.
»Digitalisierung muss Bestandteil der Aus- und Weiterbildung werden«
Mednic.de: Wie wird sich der Arztberuf durch neue Healthcare-IT-Lösungen in den nächsten Jahren verändern?
Dr. Kelle-Herfurth: Ganz offensichtlich ist, dass das Thema Digitalisierung zum festen Bestandteil der Aus- und Weiterbildung von Ärzten werden muss. Bei der ohnehin bestehenden Fortbildungspflicht sollte die Auseinandersetzung mit fachübergreifenden Inhalten wie telemedizinischen und digitalen Lösungen einen größeren Raum einnehmen. Darüber hinaus verändert sich der Arztberuf im Zuge der Digitalisierung in einem ganz wesentlichen Punkt: Die früher bestehende Informations-Asymmetrie hebt sich immer mehr auf.
Patienten informieren sich vor dem Krankenhausaufenthalt oder Arztbesuch vorab im Internet, tauschen sich in sozialen Netzwerken aus und bewerten Ärzte in Portalen nach ihren subjektiven Erfahrungen. Hierbei stehen nicht mehr nur die fachliche Kompetenz, sondern auch die Zeit, die sich der Arzt für den Patienten nimmt und Serviceleistungen ganz oben im Ranking. Patienten treten aus ihrer früheren passiven Rolle heraus, sie sind mündig und wollen nicht nur über Behandlungen und Risiken informiert werden, sondern auch selbstbestimmt mitentscheiden. Als Arzt muss man heutzutage damit rechnen, dass der Patient das eigene Urteil aufgrund von anderweitigen Informationen in Frage stellt und womöglich sogar Medikamente oder Therapien anspricht, die dem Mediziner selbst noch nicht bekannt sind.
»Status- und Machtverlust für den Arztberuf«
Ja, das kann für Ärzte schon anstrengend und zeitraubend sein, aber durchaus auch vorteilhaft für die Therapietreue. Denn viele Patienten sind auf diese Weise aktiver und übernehmen mehr Eigenverantwortung. Ein offener Dialog ist wichtig, die Arzt-Patienten-Beziehung kommt somit eher einer partnerschaftlichen Kooperation gleich. Diesen Paradigmenwechsel im Berufsbild des Arztes muss man sich bewusst machen! Die Rollenveränderung geht auch mit einem Status- und Machtverlust einher, die der Arztberuf immerhin noch vor einigen Jahren sehr ausgeprägt innehatte. Wer sich als Mediziner darüber identifiziert, hat es zunehmend schwer. Der Arzt wird nicht mehr als der ‚Halbgott in Weiß’, sondern zunehmend als Koordinator und Coach für Gesundheitsfragen wahrgenommen. Ich würde nicht so weit gehen, dass Patienten ihren Arzt künftig als eine Art „Gesundheitsdienstleister“ sehen. Aber Patienten werden mehr und mehr zu Konsumenten und sind sich über den individuellen Nutzen bewusst. Von der ärztlichen Behandlung erwarten sie nicht nur Spitzenmedizin und Beratung, sondern auch menschliche Zuwendung. Ärztliche Aufgabe wird daher im Zuge der Digitalisierung zunehmend Beziehungsarbeit sein.
Mednic.de: Frau Dr. Kelle-Herfurth, wir danken Ihnen für dieses Gespräch!