Positionspapier zur Digitalisierung: „Potenziale besser ausschöpfen!“

Die Ärztekammern Nordrhein und Westfalen-Lippe haben ein gemeinsames Positionspapier zur Digitalisierung im Gesundheitswesen herausgegeben, in dem sie Anforderungen an die Entwicklung und Nutzung digitaler Anwendungen aus Sicht der Ärzteschaft formulieren. In der E-Health-Community stößt das Papier auf offene Ohren.

Rainer Beckers, ZTG-Geschäftsführer, Geschäftsbereich Telemedizin, sieht insbesondere die differenzierte Beschäftigung mit dem Thema „Mobile Health“ positiv und erläutert: „Die Diskussion über Gesundheits-Apps von beiden NRW-Ärztekammern halte ich für zukunftsweisend. Auch im Rahmen der ZTG-App-Bewertungsplattform ‘AppCheck’ schließen wir u.a. Kooperationen mit medizinischen Fachverbänden, um mehr Transparenz und Qualität in den Markt zu bringen.“ ZTG-Geschäftsführer Lars Treinat: „In diesem Dokument betrachtet die nordrhein-westfälische Ärzteschaft die Entwicklungen im Bereich der Telematik in erster Linie von der Nutzenseite“. Treoinat verspricht sich hiervon einen „Aufschwung“ für die Thematik.

Telemedizin rückt in den Mittelpunkt

Auch der Vorstandsvorsitzende der DGTelemed, Professor Dr. med. Gernot Marx, FRCA, zeigte sich erfreut über das Positionspapier der Ärztekammern: „Schön, dass die Telemedizin in den Mittelpunkt der ärztlichen Diskussion gerückt ist. Insbesondere die Aufnahme telemedizinischer Verfahren in die Regelversorgung und die damit verbundene adäquate Honorierung der Ärzteschaft sind Themen, für die wir uns als DGTelemed ebenfalls engagieren.”

Mednic.de dokumentiert nachfolgend das Hintergrundgespräch der Zentrum für Telematik und Telemedizin GmbH (ZTG) mit Dr. Michael Schwarzenau (Ärztekammer Westfalen-Lippe). Ein Hintergrundgespräch mit Professor Dr. med. Susanne Schwalen, Geschäftsführende Ärztin der Ärztekammer Nordrhein wird in Kürze folgen.

Im Positionspapier werden einheitliche digitale Dokumentationsstandards und semantische Interoperabilität gefordert. Kann dies durch die Gematik allein sichergestellt werden oder braucht man eine Art nationalen Expertenrat, der verbindliche Standards festlegt?

Schwarzenau: Der gesetzliche Auftrag an die Gematik, ein Interoperabilitätsverzeichnis für technische und semantische Standards für informationstechnische Systeme im Gesundheitswesen aufzubauen, ist ein wichtiger Schritt, um von Insel- zu Flächenlösungen zu kommen. Es ist evident, dass mit der Schaffung von bundesweiten Standards für die Industriepartner hohe Entwicklungsaufwendungen zumindest teilweise entfallen können. Das Interoperabilitätsverzeichnis wird deshalb ein Beitrag zur Schaffung von Planungssicherheit für Anwendungsentwickler sein, es wird aber nicht der einzige Ort der Standardisierung sein. Veranstaltungen, wie beispielsweise der „2. Deutsche Interoperabilitätstag“ im Oktober 2017, werden wichtige Foren zur Schaffung von Interoperabilität sein und bleiben. Der Idee eines nationalen Expertenrates stehe ich eher skeptisch gegenüber. Es gibt ausreichend Ansätze, Expertenwissen einfließen zu lassen. Paragraf 291e SGB V, der die Schaffung und Pflege des Interoperabilitätsverzeichnisses regelt, sieht ja dezidiert die Bildung von Expertengremien vor.

Dr. Michael Schwarzenau
Dr. Michael Schwarzenau: „Die rasante Entwicklung von digitalen Anwendungen (…) wird das gesundheitliche Verhalten der Menschen verändern“. (Foto: ÄKWL)

Welchen Weg sehen Sie, um entlang der Versorgungskette professionsübergreifend alle an der Patientenversorgung beteiligten Akteurinnen und Akteure (z. B. Pflege und Therapieberufe) einzubinden, damit die Daten rechtzeitig bei den Patientinnen und Patienten sind?

Schwarzenau: Die großen Herausforderungen der Patientenversorgung der Zukunft werden nur interprofessionell und in Teamstrukturen bewältigt werden können. Dabei spielen die Verfügbarkeit von Informationen und das Informationsmanagement eine große Rolle. Ein Beispiel: In einer älter werdenden Gesellschaft steigt auch die Zahl der multimorbiden Patientinnen und Patienten, die zur Behandlung unterschiedlicher Erkrankungen mehrere Arzneimittel verordnet bekommen. Der Einsatz des bundesweit einheitlichen Medikationsplans bietet die Chance, durch Informationstransparenz Verordnungsinkompatibilitäten zu vermeiden. Der Weg muss meines Erachtens sein, gemeinsam für alle Beteiligten auf Webtechnologien beruhende Kommunikationsplattformen aufzubauen.

Aktuelle Vergütungsregelung bremst die Einführung der Videosprechstunde in der Praxis

Wie bewerten Sie die aktuelle Vergütungsregelung für die Videosprechstunde?

Schwarzenau: Wir wissen aus Umfragen, dass in der Bevölkerung jeder zweite sich vorstellen kann, das Angebot einer Videosprechstunde zu nutzen. Wesentliche Motive sind die Vermeidung von Wartezeiten und der Wunsch nach Beratung zu „unüblichen“ Uhrzeiten. Mir scheint noch nicht ausreichend geklärt zu sein, wozu die Videosprechstunde strukturell eingesetzt werden soll: Zur „Komfortsteigerung“ für die Patienten? Zur Ergänzung der Regelversorgung? Als Beitrag zur Milderung des Arztmangels in Regionen mit schwieriger Versorgungslage? Wir sind hier in einer Übergangssituation, dieser Klärungsprozess ist noch nicht abgeschlossen. Insofern verwundert mich nicht, dass die Vergütungsregelung in ihrer restriktiven Wirkung die Einführung der Videosprechstunde in der Praxis eher bremst als beschleunigt. Die derzeitigen Einschränkungen auf bestimmte Fachgebiete und Indikationen sind weder bedarfsorientiert noch wirklich schlüssig. Ich hätte mir hier mehr Mut gewünscht.

Sie sprechen im Positionspapier von der Notwendigkeit einer sorgfältigen Evaluation für telemedizinische Verfahren. Sind die vorgesehenen Methoden nicht ohnehin schon zu hoch? Ist der Nutzen nicht offensichtlich?

Schwarzenau: Drei Aspekte. Erstens: Der persönliche Arzt-Patienten-Kontakt muss vorrangig bleiben. Bei der Nutzenbewertung telemedizinischer Konsultationssysteme müssen Aspekte wie individuelle Verantwortung, Schweigepflicht, Haftung etc. für die Evaluation leitend sein. Zweitens: Telemedizinische Verfahren sollten nicht „alter Wein in neuen Schläuchen“ sein. Der Mehrwert für die Versorgung muss erkennbar und belegbar sein. Drittens: Telemedizin ist in erster Linie eine Prozessinnovation. Deshalb sollten auch die methodischen Anforderungen an den Nutzennachweis hierauf abzielen. Das ist leider derzeit nicht der Fall. Die heutige Einstufung der Telemedizin als neue Methode durch den G-BA führt zu langen und kostspieligen Verfahren. Es wäre sehr wünschenswert, eigene Evaluationsmethoden für telemedizinische Anwendungen zu verabschieden und hierbei die Nutzerorientierung in den Vordergrund zu stellen.

„Ob diese hohen Anforderungen bei technischen Entwicklungen zur einfachen Übertragung von Vitalwerten sachgerecht sind, muss man kritisch fragen“

Im Positionspapier fordern Sie, dass der digitale Fortschritt nicht auf den privat finanzierten Bereich beschränkt bleiben darf, nur weil die Strukturen im Gesundheitswesen zu träge sind. Welche Strukturen meinen Sie damit genau?

Schwarzenau: Zunächst einmal: Die rasante Entwicklung von digitalen Anwendungen wie zum Beispiel Fitness-Tracker, digitale Überwachung von Vitaldaten, Monitoring von Flüssigkeitsaufnahme bei alten Menschen, pflegerische Notrufsysteme werden die gesundheitliche Orientierung und das gesundheitliche Verhalten der Menschen verändern. Der Druck wird zunehmen, zu entscheiden, welche Produkte und Entwicklungen im GKV-System bezahlt werden sollen. Wir sind im Gesundheitswesen auf diese Dynamik nicht vorbereitet. Ein Beispiel: In der Verfahrensordnung Paragraf 13 des G-BA heißt es: ‚Der Nutzen einer Methode ist durch qualitativ angemessene Unterlagen zu belegen. Dies sollen, soweit möglich, Unterlagen der Evidenzstufe I mit patientenbezogenen Endpunkten (z. B. Mortalität, Morbidität, Lebensqualität) sein.’ Ob diese hohen Anforderungen bei technischen Entwicklungen zur einfachen Übertragung von Vitalwerten sachgerecht sind, muss man kritisch fragen. In jedem Fall fehlen kleinen Start-Up-Unternehmen Geld und langer Atem, um diesen Weg zu beschreiten.

„Apps müssen einen hohen Missbrauchsschutz aufweisen“

Welche anderen Kriterien halten Sie neben der Berücksichtigung des Medizinproduktegesetzes für relevant, um die Entwicklung von Gesundheits-Apps in die richtige Richtung zu bringen?

Schwarzenau: Damit Gesundheits-Apps verbindliche Bausteine in Versorgungsszenarien werden können sind eine ganze Reihe von Fragen zu klären. Ich kann hier nur Stichworte nennen. Die erhobenen Daten müssen medizinische Relevanz besitzen. Sie sollten nicht ‚freischwebend’ erhoben werden, sondern in Verbindung zu Versorgungszielen stehen. Diese Versorgungsziele müssen individuell zwischen Arzt und Patienten vereinbart werden. Die Apps müssen einen hohen Missbrauchsschutz aufweisen (Stichwort: Gesundheitsdaten als Ware). Die Datenqualität muss gesichert sein, die Systeme müssen verlässlich funktionieren. Und schließlich braucht es Rechtssicherheit bezüglich Datenschutz, Haftungsrecht und Berufsrecht.