Der großflächige Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) in der Medizin könnte helfen, schwere Krankheiten wesentlich früher zu erkennen, Menschen besser therapieren – und die prognostizierten Gesundheits- und Folgekosten in Europa binnen zehn Jahren um eine dreistellige Milliardensumme senken. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft PwC.
Michael Burkhart, Partner und Leiter des Bereichs Gesundheitswesen & Pharma bei PwC, macht sich trotz der Studienergebnisse keine Illusionen: „Der Weg dorthin ist schwierig. Denn künstliche Intelligenz funktioniert nur auf Basis riesiger Datenbestände – und die müssen zunächst konsequent aufgebaut werden. Dennoch ist der potenzielle Nutzen von künstlicher Intelligenz so gewaltig, dass es sich ohne Zweifel lohnen wird, diesen Weg zu gehen.“
Kampf gegen Fettleibigkeit
Die PwC-Studie konzentrierte sich auf drei besonders verbreitete Krankheitsbilder, nämlich Fettleibigkeit bei Kindern, Demenz und Brustkrebs. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO leidet in der EU in etwa jedes dritte Kind zwischen sechs und neun Jahren an Fettleibigkeit. Zugleich gehen Experten davon aus, dass rund 60 Prozent der Jungen und Mädchen, die bereits vor der Pubertät übergewichtig sind, dies auch als Erwachsene sein werden. Folge: Laut Schätzungen werden inzwischen sieben Prozent der jährlichen Gesundheitsbudgets in der EU für Krankheiten verwendet, die mit Fettleibigkeit zu tun haben.
Erste klinische Studien zeigen nun, dass sich mithilfe künstlicher Intelligenz womöglich schon aus den Gesundheitsdaten von Zweijährigen ablesen lässt, welche Kinder einem besonders hohen Risiko ausgesetzt sind, später an Übergewicht zu leiden. Diese Erkenntnisse könnten es Ärzten und Eltern ermöglichen, das Problem sehr viel früher anzugehen als das heute der Fall ist“, sagt PwC-Experte Burkhart.
Eine weitere Anwendung von künstlicher Intelligenz liegt in der Analyse typischer Risikofaktoren. „Die Hoffnung ist, dass wir dadurch in einigen Jahren sehr viel genauer sagen können, inwieweit Übergewicht im Einzelfall mit dem Lebenswandel, den Ernährungsgewohnheiten oder der genetischen Disposition zu tun hat. Dadurch würden sich die Therapiemöglichkeiten signifikant verbessern“, ist Burkhart überzeugt. Die PwC-Studie kommt daher zu dem Schluss, dass sich mit Hilfe von künstlicher Intelligenz die Gesundheitskosten für Übergewicht um grob geschätzt 90 Milliarden Euro innerhalb der nächsten zehn Jahre senken ließen.
Demenz früher entdecken
Ähnliche Fortschritte wie beim Übergewicht erhoffen sich Experten auch in Bezug auf Demenz. Schon jetzt gibt es in Europa rund 10,5 Millionen Demenzkranke – bis 2035 könnte die Zahl auf rund 15 Millionen Menschen steigen (wobei die Dunkelziffer aufgrund vieler gar nicht diagnostizierter Fälle höher sein dürfte). Die volkswirtschaftlichen Kosten werden europaweit für das Jahr 2015 mit rund 300 Milliarden Euro beziffert.
Bislang werden die meisten Demenzfälle frühestens diagnostiziert, wenn Menschen bei sich selber entsprechende kognitive Veränderungen feststellen oder wenn ihr Umfeld das tut. Mit künstlicher Intelligenz, das zeigen erste Forschungsergebnisse, dürften deutlich frühere Diagnosen möglich werden – und zwar häufig schon auf Basis regulärer Vorsorgeuntersuchungen. Eine klinische Studie aus den Niederlanden kommt zudem zu Schluss, dass sich Künstliche-Intelligenz-Verfahren mit herkömmlichen Diagnosemethoden wie der Magnetresonanztomografie (MRT) kombinieren lassen. Auf diese Weise wurden Alzheimer-Erkrankungen in einem sehr frühen Stadium mit einer Genauigkeit von 82 bis 90 Prozent festgestellt.
„Das bedeutet noch nicht, dass damit automatisch auch bessere Therapiechancen entstehen. Allerdings könnten frühzeitige Diagnosen dazu beitragen, die Lebensqualität der Betroffenen signifikant zu verbessern“, meint PwC-Experte Burkhart. Davon würde wiederum auch das Gesundheitssystem profitieren, folgert man bei PwC. Die Berater meinen: Wird Demenz bereits frühzeitig im Zuge routinemäßiger Arztbesuche diagnostiziert, fallen weniger Kosten für Untersuchungen bei Spezialisten an. Alles in allem schätzt die PwC-Studie die möglichen Einsparungen über die kommenden zehn Jahre europaweit auf acht Milliarden Euro.
Individuellere Heilverfahren bei Brustkrebs
Auch beim dritten von PwC untersuchten Krankheitsbild liegt die Notwendigkeit besserer Diagnose- und Therapieverfahren auf der Hand. So handelt es sich bei knapp 30 Prozent aller Krebserkrankungen bei europäischen Frauen um Brustkrebs. Erste Tests, bei denen künstliche Intelligenz eingesetzt wurde, kommen nun zu bemerkenswerten Ergebnissen. So führten die KI-Anwendungen bei einer Studie dazu, dass Mammografie-Resultate 30-mal schneller ausgewertet wurden als durch einen Arzt – und das bei einer Fehlerrate von nur einem Prozent.
Darüber hinaus war künstliche Intelligenz bei einer Pilotstudie in der Lage, mit mehr als 70-prozentiger Genauigkeit vorherzusagen, wie eine Patientin auf zwei herkömmliche Chemotherapie-Verfahren reagieren würde. Angesichts der enormen Verbreitung von Brustkrebs geht die PwC-Untersuchung davon aus, dass der Einsatz von künstlicher Intelligenz enorme Kostensenkungen für das Gesundheitssystem brächte. PwC geht davon aus, dass über die nächsten zehn Jahre kumuliert schätzungsweise 74 Milliarden Euro eingespart werden könnten.
Künstliche Intelligenz vs. Datenschutzbestimmungen
Die PwC-Studie zeigt gleichwohl, dass künstliche Intelligenz kein Allheilmittel ist – auch weil bei vielen Krankheiten die Fortschritte in der Therapie fürs erste hinter den Verbesserungen bei der Diagnose zurückbleiben dürften. Zudem sind die prognostizierten Einsparungen zunächst einmal an beträchtliche Investitionen geknüpft, etwa für den Aufbau der notwendigen Datenbanken. „Darüber hinaus wird auch der Gesetzgeber gefordert sein. Denn der Einsatz von künstlicher Intelligenz in der Medizin verlangt nach starken Eingriffen in die Regulatorik – etwa was Datenschutzbestimmungen angeht“, sagt Burkhart. Und, ein nicht zu unterschätzender Punkt: „Selbst wenn alle technischen, finanziellen und rechtlichen Hürden genommen werden, bleibt noch die psychologische Komponente. Künstliche Intelligenz wird teilweise zu völlig neuen Therapieverfahren führen – die Frage ist, ob die Menschen bereit sind, sich darauf einzulassen.“