AWMF: EU-Regelungen behindern Patientenversorgung

Blick auf Frankfurt am Main
Die AWMF-Delegiertenkonferenz findet in Frankfurt am Main statt. (Foto: claudiodivizia/123rf.com)

Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF) warnt davor, dass unverzichtbare medizinische Nischenprodukte infolge der europäischen Medizinprodukteverordnung (MDR) vom Markt verschwinden könnten.

Solche Nischenprodukte kommen beispielsweise in der Kinderkardiologie zum Einsatz. Medizinprodukte, die nur in geringer Stückzahl benötigt werden und deren Re-Zertifizierung für die MDR sehr aufwendig ist, könnten Hersteller vom Markt nehmen. Im Vorfeld ihrer Delegiertenkonferenz (4. November 2023 in Frankfurt/M.) warnt die AWMF davor, dass es hier zu bedrohlichen Engpässen kommen kann. Da es bei chirurgischen Nischenprodukten häufig keine vergleichbaren Ersatzprodukte gibt, wirke sich ein Engpass unmittelbar negativ auf die Versorgung der Patientinnen und Patienten aus. Die AWMF fordert daher die Koordination durch die Task-Force „Orphan Devices“ auf europäischer Ebene. 

Um auch die Innovationsfähigkeit bei der Entwicklung neuer Medizinprodukte zu erhalten, müssten Hürden bei der Verfügbarkeit bereits existierender Daten verringert und die Nutzung von Registerdaten der Fachgesellschaften ermöglicht werden. Zudem fordert die AWMF in Bezug auf die Neuregelung der EU-Verordnung über In-vitro-Diagnostika (IVDR), dass Laboren auch zukünftig die eigene Entwicklung neuartiger Diagnostika möglich sein sollte.

Drohende Versorgungsengpässe

Seit Mai 2021 gilt die europäische Medizinprodukteverordnung, die Medical Device Regulation (MDR), welche die Marktzulassung von Medizinprodukten, etwa für chirurgische Instrumente, Implantate, Verbandsstoffe oder Röntgengeräte regelt. „Als AWMF unterstützen wir das Ziel der MDR, die Patientensicherheit durch einheitliche europäische Standards zu erhöhen. Zugleich ist es jedoch wichtig, dass die neuen Regelungen nicht zu Engpässen in der aktuellen Versorgung führen und dass die Innovationsfähigkeit der Medizin nicht verschlechtert wird“, betont Professor Dr. med. Dr. med. dent. Henning Schliephake, stellvertretender Präsident der AWMF.

Rückgang an Innovationen bei Medizinprodukten

„Die Politik muss darauf achten, dass die Umsetzung der MDR nicht zu einem Rückgang an Innovationen bei Medizinprodukten führt. Denn auch für die wissenschaftlichen Studien, die für die Zulassung neu entwickelter Produkte notwendig sind, werden in der MDR sehr hohe Anforderungen gestellt, die personell und strukturell aufwendig sind und gegenfinanziert werden müssen“, warnt Professor Dr. med. Ernst Klar, Vorsitzender der Ad-hoc-Kommission „Bewertung von Medizinprodukten“ der AWMF. Die AWMF fordert deshalb Unterstützung in Form einer niederschwellig verfügbaren Förderung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Dadurch könnten in den forschenden wissenschaftlichen Institutionen und den Transferbereichen die höheren materiellen und personellen Aufwände sichergestellt werden.  Wesentliche Unterstützung kann aber auch durch klinische Daten aus den Registern der Fachgesellschaften erfolgen, die in Koordination durch die AWMF für die Neuzulassung und Re-Zertifizierung von Medizinprodukten besser nutzbar gemacht werden müssen.

Schlechtere Patientenversorgung durch PFAS-Verbot

Die AWMF warnt darüber hinaus davor, dass Versorgungsengpässe auch durch das geplante Verbot von Industriechemikalien wie Per- und polyfluorierte Alkylsubstanzen (PFAS), die beispielsweise Teil chirurgischer Instrumente sind sowie in Herzschrittmachern oder Narkosegeräten vorkommen. Auch wenn die AWMF grundsätzlich ein Verbot der umweltbelastenden Stoffe unterstützt, weist sie daraufhin, dass bis zum Entwickeln von Ersatzsubstanzen die medizinische Versorgung auf dem aktuellen Niveau gesichert bleiben muss. Denn bisher gibt es für PFAS keine Ersatzstoffe, die genauso langlebig und gut verträglich sind. Die AWMF warnt vor zu kurzen Übergangsfristen, um gleichwertige Ersatzstoffe zu entwickeln. Um die Patientenversorgung aufrechtzuerhalten, fordert die AWMF, die PFAS-Untergruppen risikoadaptiert einzustufen und je nach Risiko einen weiteren Einsatz zu ermöglichen, bis Ersatzstoffe verfügbar sind.

Weiteres Verordnungs-Desaster droht

Auch im Bereich der Labordiagnostik und Pathologie bringt die Neuregelung der Verordnung über In-vitro-Diagnostika (IVDR), welche das Inverkehrbringen von In-vitro-Diagnostika regelt, viele Herausforderungen mit sich. Häufig stellen Labore In-vitro-Diagnostika selbst her, etwa wenn es für die Diagnostik von seltenen Erkrankungen keine kommerziell verfügbaren Produkte gibt. Die neue EU-Verordnung sieht nun vor, dass diese Produkte aus Eigenherstellung nicht mehr angewandt werden dürfen, sobald gleichartige Produkte auf dem Markt verfügbar sind. Dieser Aspekt muss aus Sicht der AWMF bei der bis zum Jahr 2027 vorgesehenen Evaluation der IVDR berücksichtigt werden. Hier gelte es klarzustellen, dass die Regulation von Prozessen und Verfahren in Laboren nach wie vor in der Verantwortung der Mitgliedsstaaten liege und somit in Deutschland im Rahmen der ärztlichen Selbstverwaltung erfolgen müsse.