Gut zwei Jahre nach dem Start des mobilen Spiels Sea Hero Quest stellen Wissenschaftler fest: Wie gut sich Menschen orientieren, hängt mit Einkommen und Geschlecht zusammen. Was das für die Demenzforschung bedeutet, erklärt Mark Düsener, Senior Vice President Healthcare bei T-Systems, in seinem Gastbeitrag.
Männer können sich besser orientieren als Frauen. Aber …
Gastbeitrag von Mark Düsener
Stimmt das Klischee, dass Männer ein besseres Orientierungsvermögen haben als Frauen? Eine jetzt veröffentlichte Studie scheint jedenfalls genau das zu belegen. Tatsächlich kommt das Team um Prof. Dr. Hugo Spiers vom University College London (UCL) und Prof. Michael Hornberger von der Universität von East Anglia (UEA) aber zu einem differenzierteren Ergebnis: Der Leistungsunterschied zwischen Frauen und Männern verringert sich signifikant in Ländern, in denen die Gleichstellung weiter vorangeschritten ist.
Für ihre Arbeit analysierten die Wissenschaftler Daten, die Spieler des speziell zu Forschungszwecken entwickelten mobilen Spiels Sea Hero Quest freiwillig bereitgestellt hatten. Und sie fanden dabei noch etwas heraus: Menschen in Skandinavien, Nordamerika, Australien und Neuseeland verfügen weltweit über das beste räumliche Orientierungsvermögen. Auch für diese Zahlen suchten die Forscher nach Ursachen und setzen die Fähigkeit, sich zu orientieren, in Zusammenhang mit dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf innerhalb eines Landes. „Wir haben festgestellt, dass sich das Lebensumfeld auf das räumliche Orientierungsvermögen auswirkt“, erklärt der Hauptautor der Studie, Prof. Dr. Hugo Spiers, die Ergebnisse.
Ein mobiles Spiel hilft der Demenzforschung
Die neue Studie ist die erste wissenschaftliche Publikation, die auf den aus Sea Hero Quest generierten Daten basiert. 2016 startete die Deutsche Telekom die Spiele-App gemeinsam mit Partnern aus Wissenschaft und Forschung sowie dem Spieleentwickler Glitchers. Ziel ist es, Normdaten zum menschlichen Orientierungsverhalten zu gewinnen, um darauf aufbauend die Grundlagenforschung für Demenz zu verbessern.
Wer Sea Hero Quest auf dem Smartphone oder Tablet spielt, muss ein Boot durch unterschiedliche Wasserlandschaften steuern und dabei eine Reihe von Orientierungs- und Navigationsaufgaben meistern. Zweimal pro Sekunde zeichnet das Spiel Daten auf und sendet diese an Server der Telekom in Deutschland. Der Bonner Konzern stellt den Wissenschaftlern sämtliche Daten in anonymisierter Form zur Verfügung. Bisher haben weltweit mehr als vier Millionen Menschen ihre Spielerdaten zur Verfügung gestellt – und so die bislang größte globale Datenbank mit Normdaten zum Orientierungsvermögen von Menschen jeden Alters und Geschlechts mit aufgebaut. Die Informationen sind eine wichtige Basis für die Wissenschaftler, da der Rückgang des Orientierungsvermögens ein Frühzeichen von Demenz sein kann.
Wohlstand als Einflussfaktor für das Orientierungsvermögen
Für die aktuelle Untersuchung werteten die Wissenschaftler Daten von insgesamt mehr als einer halben Million Spielern aus 57 Ländern mit mindestens 500 Teilnehmern aus. Diese hatten zudem ihr Alter, ihr Geschlecht und ihre Nationalität angegeben. In die Ergebnisse eingerechnet ist auch die allgemeine Fähigkeit für mobiles Spielen, die das Forscherteam über ein gesondertes Trainingslevel vor dem eigentlichen Spielen testet. Bereits 2016 hatte eine erste Analyse der Spielerdaten gezeigt, dass die Orientierungsfähigkeit eines Menschen schon ab einem Alter von 19 Jahren kontinuierlich abnimmt.
„Die aktuelle Studie zeigt, welche Leistungen bei Sea Hero Quest in einem bestimmten Alter zu erwarten sind“, sagt Prof. Stephan Brandt von der Klinik für Neurologie mit Experimenteller Neurologie an der Berliner Charité. „Sie zeigt auch, welche anderen Einflussfaktoren berücksichtigt werden müssen.“ Die an der Analyse beteiligten Wissenschaftler um Hugo Spiers konzentrierten sich zunächst auf das BIP pro Kopf, weil es als Standardmessgröße für alle Länder verfügbar ist.
Weshalb also können sich Menschen aus wohlhabenden Ländern durchschnittlich besser orientieren? Nach Ansicht der Wissenschaftler könnte das von Faktoren wie Bildungsstandard, Gesundheit und Mobilität abhängen. Auch für Prof. Brandt ist es nicht verwunderlich, dass die Teilnehmer besser abschneiden, die auch im Alltag mobiler sind. „Mobilität – im Sinne eines größeren Bewegungsradius – ist oft ein Zeichen von Wohlstand.“
Die an der Studie beteiligten Forscher vermuten darüber hinaus einen weiteren Zusammenhang: Viele Menschen in den wohlhabenden, skandinavischen Ländern – die ja sehr gut abgeschnitten hatten – nehmen regelmäßig in ihrer Freizeit an Orientierungsläufen teil und trainieren so ihren Navigationssinn. Einen ähnlichen Effekt scheint es bei den Spielern aus nordamerikanischen Ländern zu geben, die vergleichsweise viel Auto fahren.
Geschlechtergleichheit minimiert Unterschiede
Eine weitere Größe neben dem BIP war der Global Gender Gap Index des Weltwirtschaftsforums. Mit seiner Hilfe ließ sich festhalten, dass Frauen insbesondere in den Ländern schlechter abschneiden, in denen der gesellschaftliche Unterschied zwischen den Geschlechtern größer ist. Gleichzeitig war der Leistungsunterschied in wohlhabenderen Ländern kleiner. Für die Wissenschaftler legen diese Ergebnisse nahe, dass Geschlechterunterschiede im Hinblick auf kognitive Fähigkeiten nicht festgeschrieben sind. Vielmehr werden sie durch das kulturelle Umfeld beeinflusst, wie etwa die Rolle der Frau in der Gesellschaft.
Die Ergebnisse sind erst der Auftakt zu weiteren Analysen der durch Sea Hero Quest gewonnenen Informationen. „Wir werden die Daten weiter analysieren und hoffen, dann besser zu verstehen, warum Menschen in bestimmten Ländern bei Navigationsaufgaben besser abschneiden als in anderen“, sagt Spiers.
Big Data schlägt Labor
Die Arbeit mit automatisiert erhobenen Daten beschleunigt die Demenzforschung enorm: Nur zwei Minuten Spielzeit entsprechen etwa fünf Stunden herkömmlicher klinischer Forschung. „Mit den aktuell eingesetzten üblichen Demenztests lassen sich die Anfangssymptome von räumlicher Desorientierung nicht effektiv untersuchen. Daher versuchen wir, auf der Basis von Crowd-Sourcing eine einfache und effiziente Messmethode mit hoher Verlässlichkeit für die Prognose zu finden“, sagt Dr. Spiers. Lässt sich Sea Hero Quest also tatsächlich bald als Test für frühe Anzeichen von Demenz einsetzen? Prof. Michael Hornberger von der Universität von East Anglia sagt: „Es ist ermutigend, dass die gemessenen Unterschiede zwischen einzelnen Nationalitäten nicht so gravierend sind. Das Spiel könnte also relativ universell als Test für räumliches Orientierungsvermögen eingesetzt werden.“
Es bleibt also spannend mit Sea Hero Quest – auch für einen ITK-Anbieter wie die Telekom. Denn das Spiel zeigt nicht nur, wie leistungsfähig umfangreiche Datenerhebungen über mobile Anwendungen sind. Es unterstützt auch maßgeblich die Forschung zu einer der drängendsten Gesundheitsfragen unserer Zeit.