Eine neue Software ist in der Lage, kleinste Abweichungen im Erbgut zu entdecken und krankmachende Genveränderungen zu finden. Davon profitieren könnten vor allem Menschen mit so genannten „Seltenen Erkrankungen“ und ihre Angehörigen.
Ein einziger Fehler im Erbgut kann eine schwere Erkrankung zur Folge hat. Eine solche Abweichung im Erbgut zu entdecken ist allerdings schwierig, da zwei gesunde Menschen schon etwa drei Millionen Unterschiede in ihrem Erbgut aufweisen. Helfen könnte eine neue Software, die Forschende der Core Unit Bioinformatics des Berlin Institute of Health (BIH), der Charité – Universitätsmedizin Berlin und des Max-Delbrück-Centrum für molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) gemeinsam entwickelt haben. Die frei verfügbare Software „VarFish“ soll die „Nadel im Heuhaufen“ zu finden.
Vor allem Patienten mit seltenen Erkrankungen könnten von der Entwicklung profitieren. Etwa vier Millionen Menschen in Deutschland sind insgesamt betroffen, doch von jeder einzelnen der geschätzt 8.000 verschiedenen Krankheiten treten meist nur wenige Fälle auf. So dauert es häufig Jahre, bis die Betroffenen die richtige Diagnose erhalten, was jedoch die Voraussetzung für eine wirksame Therapie darstellt.
„Häufig landen die betroffenen Eltern nach einer jahrelangen Odyssee bei uns“, sagt Dr. Nadja Ehmke, Fachärztin im Institut für Medizinische Genetik und Humangenetik der Charité. „Sie haben ein krankes Kind, das sich geistig oder körperlich nicht richtig entwickelt und wollen nun wissen, warum. Wenn wir ihnen dann aufgrund einer genetischen Analyse erklären können, wo der Fehler liegt, ist das für die Eltern oft eine riesengroße Erleichterung, auch wenn das noch nicht bedeutet, dass man auch therapeutisch etwas für ihr Kind tun kann.“ Durch eine Diagnose können sich die Eltern mit anderen Betroffenen austauschen, Selbsthilfegruppen besuchen oder gründen und auch besser einschätzen, ob ein weiteres Kind ebenfalls erkranken könnte.
Software entdeckt Unterschiede
Für die genetische Analyse isolieren die Wissenschaftler das Erbgut aus Blutzellen der Patientinnen und Patienten und lesen die Sequenz, also die Abfolge der Buchstaben. Danach vergleichen die Forschenden die Sequenz mit dem Erbgut von Eltern, Geschwistern oder den vorhandenen Erbgut-Analysen in großen Datenbanken. „Hier stößt der Mensch naturgemäß an seine Grenzen“, sagt Dr. Dieter Beule, der Leiter der BIH Core Unit Bioinformatics. „Selbst wenn wir nur die eiweißkodierenden Bereiche des Erbguts analysieren, das so genannte Exom, müssen wir Millionen von Bausteinen vergleichen. Dazu benötigt man leistungsfähige Software, die die Unterschiede entdeckt.“ Doch selbst zwischen zwei gesunden Personen unterscheidet sich das Erbgut in den kodierenden Bereichen an rund 30.000 Positionen. Hier setzt die Software „VarFish“ an, die Beule und sein Team entwickelt hat.
Die Software vergleicht die eingegebene Sequenz des Patienten oder der Patientin mit Sequenzen aus weltweit zusammengetragenen Datenbanken. Die Forschenden griffen dazu auf viele offene und freie Datenressourcen zurück, wie die amerikanischen Datenbanken vom National Center for Biotechnology Information, der Universität von Washington, Seattle, dem European Bioinformatics Institute EBI in Cambridge, UK, aber auch auf Datenbanken und Algorithmen der Charité und des BIH.
Abgleich in Sekunden
„Innerhalb weniger Sekunden kann VarFish 29.950 von den 30.000 Unterschieden ausschließen“, so Beule. „Denn viele dieser Abweichungen findet die Software z.B. auch in den Sequenzen der Bevölkerungsdaten und führen dort offenbar nicht zu auffälligen Problemen und sind daher aller Wahrscheinlichkeit nach nicht für die seltene Erkrankung verantwortlich.“ Die übrig gebliebenen 50 Genvarianten vergleichen die Wissenschaftler dann mit bereits bekannten Erbkrankheiten. Auf diese Weise lassen sich die ursächlich verantwortlichen Veränderungen weiter auf etwa zehn eingrenzen.
„In manchen Fällen entdecken auch Wissenschaftler in Forschungsstudien Mutationen in einem bekannten Gen. ‚VarFish‘ ermöglicht eine rasche Prüfung auf Mutationen in bekannten Genen“, erklärt Professorin Ute Scholl, die am BIH eine Johanna-Quandt Professur innehat. „Das ist wichtig, weil es uns Hinweise geben kann, welches Medikament helfen könnte und klinisch weiterverfolgt werden sollte.”
Bereits viele Anwender
Dr. Manuel Holtgrewe, Bioinformatiker in der Core Unit und Erstautor der Publikation, freut sich darüber, dass die neue Software so viele Anwender findet: Bereits in den ersten Wochen wurde die Software bereits hundertfach eingesetzt. Wissenschaftler und Ärzte weltweit haben damit gearbeitet. „Intern haben wir schon tausende Datensätze damit verarbeitet“, so Dr. Holtgrewe. Gerade bei der Erforschung und Behandlung von Seltenen Erkrankungen ist die internationale Zusammenarbeit wichtig, weil jede einzelne Mutation ja meist nur wenige Male in jedem Land auftritt.
Professor Stefan Mundlos, Direktor des Instituts für Medizinische Genetik und Humangenetik der Charité und der Forschungsgruppe “Development & Disease” am Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik Berlin, berichtet: „VarFish hat uns sehr dabei geholfen, Teilnehmende für unsere Klinischen Studien schnell und zielsicher zu einer Diagnose zur verhelfen.“
Die Software wird ausführlich in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift „Nucleic Acids Research” beschrieben.