Schafft die EU ein Gesundheitsdaten-Monster?

Geplanter Europäischer Raum für Gesundheitsdaten
Geplanter Europäischer Raum für Gesundheitsdaten: „…unverantwortliche Risiken des Diebstahls, Hacks oder Verlustes persönlichster Behandlungsdaten?“ (Foto: norrie3699/123rf.com)

Zwei Ausschüsse des Europäischen Parlaments (LIBE/ENVI) haben jetzt für einen „Europäischen Raum für Gesundheitsdaten“ (EHDS) gestimmt. Darin sollen Informationen über sämtliche ärztliche Behandlungen eines Bürgers zusammengeführt werden. 

Wird der EHDS „…die Bürgerinnen und Bürger stärken, indem er die Gesundheitsversorgung auf nationaler und grenzüberschreitender Ebene verbessert“? Wird der EHDS den verantwortungsvollen Austausch von Gesundheitsdaten erleichtern und damit die Forschung und Innovation in der EU fördern, wie es der kroatische EVP-Politiker Tomislav Sokol, Mitberichterstatter im zuständigen EU-Umweltausschuss ENVI, meint?

Die EU-Politiker mögen eine bessere Behandlung von im Ausland erkrankten EU-Bürgern wohlwollend im Hinterkopf haben. Ganz sicher denkt die Mehrheit der zuständigen EU-Politiker aber daran, dass die Forschung und „Innovation“ im medizinischen Bereich im Vergleich zu Nordamerika, China und anderen Staaten nicht zurückfällt – sprich: Europa im globalen Wettbewerb konkurrenzfähig bleibt. Doch was ist eigentlich „Innovation“ und wie groß sind die Gefahren für die Persönlichkeitsrechte jedes einzelnen Bürgers? Weltweit, so gewinnt man den Eindruck, steht das Recht des Einzelnen im krassen Widerspruch zu möglichen Fortschritten in der medizinischen Forschung und zum erhofften, wirtschaftlichen Erfolg von Unternehmen im Pharma- und Gesundheitsbereich. Aber gibt es hier wirklich nur ein entweder oder?

Kein Widerspruchsrecht gegen die EU-Patientenakte

Deutlich wird, dass nach dem Willen der EU-Politiker die Rechte des Einzelnen deutlich weniger berücksichtigt werden, als bisher etwa auf nationaler, deutscher Ebene geplant. So soll im Vergleich zu den bisherigen Digitalisierungsplänen der Bundesregierung das Widerspruchsrecht der Bürger gegen die Patientenakte entfallen.

Die EU-Regelungen würden einerseits den Patienten das Recht geben, auf ihre persönlichen Gesundheitsdaten in den verschiedenen Gesundheitssystemen der EU zuzugreifen (die so genannte Primärnutzung), andererseits auch den Angehörigen der Gesundheitsberufe erlauben, auf die Daten von Patienten zuzugreifen. Der Zugang würde Patientenübersichten, elektronische Verschreibungen, medizinische Bilder und Laborergebnisse umfassen.

Jedes Land soll auf der Grundlage der Plattform „MyHealth@EU“ nationale Dienste für den Zugang zu Gesundheitsdaten einrichten. Das Gesetz würde auch Regeln für die Qualität und Sicherheit der Daten von Anbietern elektronischer Patientendatensätze (EHR) in der EU festlegen, die von den nationalen Marktaufsichtsbehörden zu überwachen wären.

Die neuen Regelungen würden bestimmte Verwendungszwecke verbieten, etwa die Datennutzung für Werbung, Entscheidungen über den Ausschluss von Personen von Versicherungsleistungen oder die Weitergabe an Dritte ohne Genehmigung. Anträge auf Zugang zu sekundären Daten würden nach den Regeln zufolge von nationalen Stellen bearbeitet. Die müssen sicherstellen, dass die Daten nur in einem anonymisierten oder, falls erforderlich, pseudonymisierten Format bereitgestellt werden.

Zwang bei der Sekundärnutzung von Gesundheitsdaten

Brisant: In ihrem Positionsentwurf wollen die Abgeordneten die ausdrückliche Zustimmung der Patienten für die Sekundärnutzung bestimmter sensibler Gesundheitsdaten zwingend vorschreiben und einen Opt-out-Mechanismus für andere Daten vorsehen. Das sorgt bereits für Protest: „Die von der EU geplante Zwangs-elektronische Patientenakte mit europaweiter Zugriffsmöglichkeit zieht unverantwortliche Risiken des Diebstahls, Hacks oder Verlustes persönlichster Behandlungsdaten nach sich und droht Patienten jeder Kontrolle über die Sammlung ihrer Krankheiten und Störungen zu berauben“, kritisiert Dr. Patrick Breyer, Europaabgeordneter der Piratenpartei und Mitverhandlungsführer der Fraktion Grüne/Europäische Freie Allianz im Innenausschuss des EU-Parlaments. „Das ist nichts anderes als das Ende des Arztgeheimnisses. Haben wir nichts aus den internationalen Hackerangriffen auf Krankenhäuser und andere Gesundheitsdaten gelernt? Wenn jede psychische Krankheit, Suchttherapie, jede Potenzschwäche und alle Schwangerschaftsabbrüche zwangsvernetzt werden, drohen besorgte Patienten von dringender medizinischer Behandlung abgeschreckt zu werden – das kann Menschen krank machen und ihre Familien belasten! Deutschland muss endlich auf die Barrikaden gehen gegen diese drohende Entmündigung der Bürger und Aushebelung des geplanten Widerspruchsrechts!“ Breyer will sich im Europäischen Parlament dafür einsetzen, dass seine Fraktion per Änderungsantrag im Dezember 2023 das gesamte EU-Parlament über dieses Vorhaben entscheiden lässt.

Das EU-Papier sieht zwar keine gänzliche „Entmündigung“ vor, wohl aber verhältnismäßig schwierige Wege, um sich gegen die EU-Regelungen zu wehren. So soll den Bürgern das Recht eingeräumt werden, die Entscheidung einer Stelle für den Zugang zu Gesundheitsdaten anzufechten. Gemeinnützige Organisationen sollen die Möglichkeit bekommen, in Namen von EU-Bürgern Beschwerden einzureichen.

Wird die ärztliche Schweigepflicht untergraben?

Die Piratenpartei-Politikerin Anja Hirschel hält die angedachten Widerspruchs-Möglichkeiten für völlig unzureichend: „Eine zentrale Datenspeicherung weckt Begehrlichkeiten in verschiedenste Richtungen. Wir sprechen dabei allerdings nicht nur von Hackerangriffen, sondern von der sogenannten Sekundärnutzung. Diese bezeichnet Zugriffe, die zu Forschungszwecken vollumfänglich gewährt werden sollen. Die Patientendaten sollen dann an Dritte weitergegeben werden. Aus Datenschutzsicht ist bereits das zentrale Ansammeln problematisch, bei Weitergabe wenigstens ein Opt-In Verfahren (aktive Einwilligung) richtig. Dies würde eine gewisse Entscheidungshoheit jedes Menschen über die persönlichen Daten ermöglichen. Wird allerdings nicht einmal ein Opt-Out Verfahren (aktiver Widerspruch) etabliert, so bedeutet dies letztlich die Abschaffung der Vertraulichkeit jeglicher medizinischen Informationen. Und das obwohl Ärzte in Deutschland gemäß Paragraph 203 StGB berufsständisch zurecht der Schweigepflicht unterliegen… Dieser Schutz unserer privatesten Informationen und das Recht auf vertrauliche Versorgung und Beratung stehen jetzt auf dem Spiel.”