Klinik-Ärzte digital aufgeschlossen – Praxisärzte reserviert

Eine smarte Software prüft die Kompetenz für die Medizin. (Foto: everythingpossible/123rf.com)
Eine smarte Software prüft die Kompetenz für die Medizin. (Foto: everythingpossible/123rf.com)

Im Rahmen einer gemeinsamen Umfrage haben der IT-Verband Bitkom und der Hartmannbund über 500 Klinikärzte und niedergelassene Ärzte zur Digitalisierung im Gesundheitswesen befragt. Deutlich wird: Die Meinungen gehen weit auseinander.

Die Ergebnisse der von Bitkom und Hartmannbund gemeinsam durchgeführten Umfrage zur Digitalisierung des Gesundheitswesens bewerten beide Verbände konträr. Während man beim Bitkom sagt: „Deutschlands Ärzteschaft ist gespalten, wenn es um den Einsatz digitaler Technologien im medizinischen Alltag geht“, meint der Hartmannbund-Vorsitzende Dr. Klaus Reinhardt: „Die in der Umfrage zu Tage getretene unterschiedliche Einschätzung von Digitalisierung (…) belegt aus unserer Sicht keinen ‚digitalen Graben‘ oder gar eine ‚Spaltung‘ der Ärzteschaft.“

Wie kann es zu einer solch unterschiedlichen Beurteilung kommen? Die Umfrageergebnisse sind größtenteils recht eindeutig und lassen wenig Raum für Interpretationen. Demnach sehen 86 Prozent der Klinik-Ärzte in der Digitalisierung primär Chancen für das Gesundheitswesen – zehn Prozent halten die Digitalisierung für ein Risiko. Bei den Praxis-Ärzten betonen hingegen nur 53 Prozent die Chancen – und 39 Prozent die Risikoperspektive. Je jünger die Ärzte sind, desto aufgeschlossener und optimistischer sind sie. 88 Prozent der unter 45-Jährigen sehen die Digitalisierung als Chance. Ab einem Alter von 45 Jahren teilt indes nur noch jeder zweite Arzt (55 Prozent) die positive Sicht.

Klinik-Ärzte wollen Tempo, Praxis-Ärzte bremsen

Zugleich wünschen sich vor allem Klinik-Ärzte, dass es bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens schneller vorangeht: 82 Prozent der Mediziner in Krankenhäusern sagen, es sei mehr Tempo beim Ausbau digitaler Angebote nötig. Unter den Praxis-Ärzten sind es lediglich 38 Prozent. 70 Prozent der Klinik-Ärzte meinen, Deutschland hänge im Vergleich zu anderen Ländern bei der Digitalisierung des Gesundheitssystems zurück. Unter den Praxis-Ärzten sehen das mit 53 Prozent deutlich weniger so.

Digitale Patientenakte etabliert sich

Grundsätzlich schreitet die Digitalisierung in Praxen und Kliniken weiter voran: Jeder zweite Arzt (50 Prozent) erstellt Medikationspläne überwiegend digital. Eine digitale Patientenakte ist bereits bei 66 Prozent im Einsatz – 31 Prozent bewahren die Akten noch abgeheftet in Schränken oder Regalen auf. 61 Prozent verwalten eigene Notizen und Dokumentationen digital – und 37 Prozent analog.

Fax ist beliebt, E-Mail nicht

Die Kommunikation verläuft größtenteils traditionell: Das Telefon ist der wichtigste Kanal im Austausch mit Patienten (77 Prozent), Apotheken (61 Prozent) und Praxen (53 Prozent). Jeder fünfte Arzt (19 Prozent) hält den Kontakt zu anderen Arztpraxen überwiegend per Briefpost, 22 Prozent setzen vornehmlich auf das Fax. Lediglich jeder 20. Arzt kommuniziert überwiegend via E-Mail mit anderen Praxen (5 Prozent), Apotheken (6 Prozent) oder den Patienten (5 Prozent).

Bitkom-Vorstand Achim Berg zufolge verkennen viele Ärzte den sozialen Wandel, wie auch den Technikwandel: „…die Zeiten, in denen ein Patient ein Leben lang beim selben Hausarzt in Behandlung ist, sind vorbei. Die Menschen wechseln nicht nur Wohnorte, sondern auch Ärzte häufiger. Wenn Akten und Befunde in Papierform abgeheftet werden, sind Doppeluntersuchungen, Sicherheitsdefizite und der Verlust von Informationen vorprogrammiert. Umso wichtiger ist es, dass auch im Gesundheitswesen durchgängig digitale Prozesse eingeführt werden.“

Mehr Ärzte bieten Videosprechstunden an

Einen deutlichen Zuwachs gibt es beim Angebot von Videosprechstunden. So offerieren jetzt 17 Prozent der Praxis-Ärzte Videosprechstunden: Sechs Prozent taten dies bereits vor Corona, 11 Prozent haben damit während Corona begonnen. Weitere 40 Prozent können sich dies für die Zukunft vorstellen. Bei den Klinikärzten sind sogar drei Viertel (73 Prozent) bereit, künftig auch Videosprechstunden anzubieten – vier Prozent tun dies seit Corona. In der Pandemie wurden die vormals hohen bürokratischen Hürden für Videosprechstunden deutlich gelockert und das Vergütungsmodell angepasst. 

Grafik: Bitkom

Hoffnung auf einfachere Zusammenarbeit

Die seit dem 1. Januar 2021 in Deutschland verfügbare elektronische Patientenakte (ePA) weckt bei den meisten Ärzten große Hoffnungen: Rund neun von zehn Klinik-Ärzten (89 Prozent) erwarten durch sie eine einfachere Zusammenarbeit zwischen Ärzten – bei den Praxis-Ärzten sind es 54 Prozent. Auch eine größere Transparenz für alle Beteiligten (Klinik-Ärzte: 72 Prozent / Praxis-Ärzte: 45 Prozent) zählt für viele zu den größten Vorteilen. Zugleich sehen Klinik-Ärzte (76 Prozent) wie Praxis-Ärzte (85 Prozent) die Gefahr des Datenmissbrauchs. Insbesondere Praxis-Ärzte fürchten hohe Investitionskosten (60 Prozent / Klinik-Ärzte: 28 Prozent), jeder zweite Praxis-Arzt (52 Prozent) sieht auch eine schwierige Integration der ePA in den eigenen Behandlungsalltag. 

Gesundheits-Apps auf Rezept im Kommen

Gesundheits-Apps für das Smartphone oder Tablet-PC können Ärzte seit Oktober 2020 verordnen. Zehn solcher offiziell zugelassenen Anwendungen stehen mittlerweile zur Auswahl, und das Angebot wächst weiter. Jeder vierte Mediziner (24 Prozent) will die sogenannten digitalen Gesundheitsanwendungen, kurz DiGAs, künftig verordnen, zwei Prozent haben dies bereits getan. 28 Prozent schließen dies jedoch kategorisch aus. Bei digitalen Gesundheits-Anwendungen besteht bei rund einem Viertel der Ärzteschaft allerdings noch ein großer Informationsbedarf: Jeder zehnte Arzt (10 Prozent) weiß nach eigenem Bekunden nicht, was eine App auf Rezept ist. 

Dr. Google nervt 

Die Digitalisierung verändert nicht nur die Behandlungsmethoden, sondern auch das Verhältnis zwischen Arzt und Patient. Viele Menschen informieren sich vor dem Arztbesuch online über Symptome und Krankheiten. Dabei stellen neun von zehn Medizinern (90 Prozent) fest, dass Patienten durch die Internetrecherche verunsichert werden. Zugleich sagen zwei Drittel der Ärzte (67 Prozent), dass sie den Umgang mit Patienten, die sich vorinformiert haben, als anstrengend empfinden. 62 Prozent erleben, dass Patienten bereits mit einer Diagnose aus dem Internet zu ihnen zur Behandlung kommen. Allerdings geben umgekehrt auch 42 Prozent der Ärzte an, dass die Patienten durch Informationen aus dem Internet mündiger werden. Fast jeder zweite Mediziner (48 Prozent) lernt durch gut informierte Patienten sogar hin und wieder dazu.

Komplexität des Gesundheitssystems

Dass die Digitalisierung des Gesundheitswesens nicht schneller voranschreitet, hat vielfältige Gründe. Die große Mehrheit der Ärzte (84 Prozent) nennt als Ursache die Komplexität des Gesundheitssystems, drei Viertel (78 Prozent) empfinden den Aufwand für IT-Sicherheit und Datenschutz als zu hoch. Mehr als jeder zweite Arzt (56 Prozent) stellt aber auch eine mangelnde Digitalkompetenz seiner Patienten fest. 43 Prozent sehen diesbezüglich bei der Ärzteschaft selbst Nachholbedarf.

Digitale Fortschritte

Insgesamt erwarten viele Mediziner, dass mithilfe der Digitalisierung maßgebliche Fortschritte erreicht werden – auch bei der Bekämpfung globaler Pandemien. 80 Prozent der Befragten halten es für wahrscheinlich, dass spätestens im Jahr 2030 computergestützte Voraussagen flächendeckend im Einsatz sind, die vor Pandemien warnen und etwa durch Algorithmen die Dynamik von Infektionsgeschehen vorhersagen. 72 Prozent erwarten, dass Organe wie Speiseröhrenimplantate, Haut oder Knorpelscheiben künftig mithilfe eines 3D-Druckers gefertigt werden können. 58 Prozent rechnen zudem damit, dass Tierversuche durch Versuche an 3D-gedruckten Zellstrukturen ersetzt werden.

Hartmannbund bewertet Zahlen anders

Aus Sicht des Hartmannbundes taugen die Umfragezahlen nicht als Beleg für eine digitale Spaltung in der Ärzteschaft. Die in der Umfrage zu Tage getretene unterschiedliche Einschätzung der Digitalisierung sei geprägt durch die sehr verschiedenen Voraussetzungen, unter denen die hier Befragten der Digitalisierung ihrer Arbeitswelt im beruflichen Alltag begegneten.

Da die IT in Kliniken im Regelfall in spezialisierte Abteilungen ausgelagert sei, könnten sich hier die Ärzte – jenseits von Hintergrundproblemen – im Wesentlichen auf die Nutzung der digitalen Angebote konzentrieren. Probleme fokussieren sich in der Klinik eher in der mangelhaften Kompatibilität der angewendeten Technik oder etwa in der Notwendigkeit, Doppeldokumentationen vornehmen zu müssen.

Praxisärzte erwarten wirtschaftliche Anreize

Auch Praxisinhabern oder angestellten Medizinern in der Niederlassung bescheinigt der Hartmannbund, dass sie die Chancen von digitaler Versorgung grundsätzlich positiv sehen. Was hier einer höheren Akzeptanz aber im Wege stehe: Oftmals könne der Arzt einen echten Mehrwert des digitalen Fortschritts für sich und seine Patienten im Versorgungs-Alltag nicht erleben. Genau dieses positive Erleben sei aber entscheidend. Ansonsten bleibe die Digitalisierung eine politische Vorgabe, mit der man sich auch bei unterschiedlicher Auffassung über Sinn und Unsinn einer Maßnahme auseinanderzusetzen habe. Ein Stammdatenmanagement in der Praxis inklusive entsprechender Sanktionen bei Nichterfüllung sei definitiv kein „Mehrwert“, der motiviere.

Dort, wo die Voraussetzungen mit Blick auf die medizinischen, administrativen und wirtschaftlichen Voraussetzungen gegeben seien, wo sich Digitalisierung folglich als echter Mehrwert in der Versorgung zu erkennen gebe, da werde sie von Ärztinnen und Ärzten angenommen und befördert. Die Zunahme an telemedizinischen Leistungen sei dafür ein positives Beispiel.