“Größte Herausforderung in der Geschichte des Gesundheitssystems”

Prof. Dr. Jochen A. Werner, Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender der Universitätsmedizin Essen. (Foto: Universitätsmedizin Essen)

Mednic sprach mit Prof. Dr. Jochen A. Werner, Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender der Universitätsmedizin Essen, über die Corona-Krise, welche Rolle die Digitalisierung in der Medizin dabei spielen kann, Herausforderungen wie COVID-19 zu meistern und über Smart Hospital.

mednic.de: Prof. Werner, in Deutschland dreht sich derzeit alles um das Coronavirus. Wie bewerten Sie die aktuelle Lage?

Prof. Werner: Wir stehen zweifellos vor der größten Herausforderung in der Geschichte des Gesundheitssystems. Und dies mitten in einer Zeit, in der sich die Medizin durch die Digitalisierung und den demographischen Wandel ohnehin in der größten Transformation ihrer Geschichte befindet. Die derzeitige Sondersituation trifft also auf eine Branche im Umbruch. Das muss kein Nachteil sein, weil wir nach wie vor über eines der besten Gesundheitssysteme der Welt verfügen. Gleichzeitig kann und sollte die Bekämpfung des Coronavirus einen wichtigen Impuls geben, unsere Medizin im Hinblick auf mehr Menschlichkeit durch stärkere Digitalisierung weiter zu entwickeln.

Wir sind im Krisenmodus und bewerten mit unserem Krisenstab täglich die aktuelle Situation und passen unsere Abläufe so an, dass idealerweise keine Versorgungslücken entstehen. Zunächst haben uns vor allem die Materialengpässe Kopfzerbrechen bereitet, aktuell sind es die Personalressourcen. 

Soziale Verhaltensweisen drastisch ändern

Die Schlüsselaufgabe jedes Einzelnen ist es, alles dafür zu tun, selbst gesund zu bleiben und mitzuhelfen, dass die älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger nicht an COVID 19 erkranken. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, die empfohlenen Schutz- und Hygienemaßnahmen zu befolgen. Wir müssen unsere sozialen Verhaltensweisen drastisch ändern, um die Versorgung von Patienten mit schweren Verläufen in den Krankenhäusern zu sichern. 

Sorgen machen mir zudem die wirtschaftlichen Folgen für das Krankenhauswesen. Es steht zu befürchten, dass zahlreiche ohnehin schon defizitär arbeitende Kliniken durch das Coronavirus in eine gefährliche Schieflage geraten. Denn infektiöse Patienten benötigen immer einen überproportionalen Aufwand bei der Betreuung und zugleich fallen dadurch an anderer Stelle honorierbare medizinische Leistungen weg.  Hier ist auch die Politik gefordert, ein Rettungsschirm für Krankenhäuser wurde ja bereits thematisiert. 

Digitalisierung als Chance

mednic.de: An der Universitätsmedizin Essen wurde vor knapp einem Jahr das Institut für Künstliche Intelligenz (KI) in der Medizin gestartet. Wie können neue Technologien, KI und Big Data bei der Bewältigung von Herausforderungen wie SARS-CoV-2 unterstützen?

Prof. Werner: Aktuell stehen wir vor der Herausforderung, die Corona-Krise klinisch und gesellschaftlich zu bewältigen. Die Digitalisierung kann nicht nur im Regelbetrieb, sondern insbesondere auch im Umgang mit einer Epidemie zukünftig helfen. So wird es zum Beispiel möglich sein, gestützt auf Algorithmen und Künstliche Intelligenz, den Materialverbrauch hochzurechnen, zu optimieren und sich darauf vorzubereiten. Das gilt gleichermaßen für den Bedarf an Schutzkleidung wie für vermeintlich profane Dinge wie digitalisierte Desinfektionsspender, die passgenau die notwendige Menge Flüssigkeit spenden und so dazu beitragen, notwendige Ressourcen zu schonen. 

Künstliche Intelligenz wird auch dabei helfen, den Charakter und die Biologie des Virus besser zu verstehen und hoffentlich bald einen Impfstoff zu entwickeln. Schließlich lassen sich dank Telemedizin bereits erkrankte und in Quarantäne befindliche Patienten aus der Ferne betreuen. Außerhalb des klinischen Bereiches sehe ich vor allem KI-gestützte Rechenmodelle, die die die Verbreitung und das Ausbruchsverhalten von Krankheiten hochrechnen. 

mednic.de: Ärzte und Pflegekräfte arbeiteten bereits vor der Corona-Krise häufig am Anschlag. Können Ansätze wie das Smart Hospital dabei helfen, medizinisches Personal zu entlasten und die Qualität in der Krankenversorgung zu steigern?

Prof. Werner: Im Smart Hospital stehen neben den Patienten und deren Angehörigen insbesondere die Mitarbeiter im Fokus. Der Einsatz moderner Technologien zielt darauf ab, Versorgungsqualität und Arbeitsbedingungen zu verbessern. Etwa indem das medizinische Personal von administrativen Tätigkeiten entlastet wird und somit zusätzliche Zeit für die Versorgung der Patienten gewinnt. Das geschieht zum Beispiel mithilfe der elektronischen Patientenakte. 

Auch in der Radiologie kann Künstliche Intelligenz schon heute gewisse Routinearbeiten übernehmen. Machen Radiologen den ganzen Tag dieselbe Arbeit, kann es zu Ermüdungserscheinungen kommen. Maschinen aber bleiben immer hellwach. Die Technik kann Radiologen nicht ersetzen, aber unterstützen – davon profitieren auch die Patienten. KI wird insgesamt die Diagnostik signifikant verbessern, die Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung. Auf Grundlage dieser hervorragenden Diagnostik können Ärzte die beste, häufig personalisierte Therapie einsetzen. 

mednic.de: Der Datenschutz soll der Bekämpfung der aktuellen Pandemie nicht im Weg stehen. Im Alltag sieht das oft anders aus: Gerade gesunde Patienten sind nicht bereit, ihre Daten zur Verfügung zu stellen. Welche Rolle spielen Patientendaten im Bereich medizinische Forschung? Was muss geschehen, damit hier das richtige Maß zwischen Datensicherheit und Wichtigkeit von Datenmaterial für die Forschung gefunden wird? 

Es geht um das Überleben von Menschen

Prof. Werner: Der Zugang zu Patientendaten ist eine notwendige Voraussetzung für Forschung und in der Folge für die Krankenversorgung. Wenn es uns nicht gelingt, mit Patientendaten freier arbeiten zu können, dann werden wir Krankheiten nicht besiegen können. Hierbei geht es wirklich um das Überleben von Menschen. Deutschland muss sich dem Thema Datenschutz offen stellen, sonst verlieren wir im internationalen Vergleich den Anschluss und überlassen die Forschung womöglich den Einrichtungen außerhalb Deutschlands oder Playern außerhalb des Gesundheitssystems. In Sachen Datenschutz muss also ein gesundes Mittelmaß gefunden werden, um eine schlechte Behandlung durch Datenverlust unbedingt zu vermeiden.

Weltweite Zusammenarbeit erforderlich

mednic.de: Wie wichtig ist die Zusammenarbeit auf europäischer/auf weltweiter Ebene, wenn es um die Bewältigung von Herausforderungen wie der aktuellen Pandemie geht?

Prof. Werner: Die Corona-Krise ist ein globales Problem, das nur gemeinsam, in weltweiter Zusammenarbeit gelöst werden kann. Auch Forschungsaktivitäten müssen gebündelt werden, um die bestehenden Ressourcen optimal einzusetzen. Ich sehe die Krise auch als Chance, um dringend benötigte Datenflüsse auf den verschiedenen Ebenen zu ermöglichen. Im Nachhinein müssen wir genau analysieren, wo Probleme aufgetreten sind und wie diese zukünftig umgangen werden können.

Über Smart Hospital

mednic.de: Was bedeutet für Sie Smart Hospital? Und wie ist dahingehend der aktuelle Stand in Essen? Was sind die nächsten geplanten Schritte?

Prof. Werner: Unter Smart Hospital verstehen wir eine digitalisierte Steuerungsplattform, die sich an der Kranken- und Gesundheitsgeschichte der Menschen orientiert. Sie macht nicht Halt vor Krankenhausmauern und überwindet die Sektorengrenzen zwischen allen Akteuren des Gesundheitssystems. Smart Hospital bedeutet aber vor allem, den Fokus auf den Menschen zu legen. Patienten und Angehörige, aber auch unsere Mitarbeiter stehen im Mittelpunkt aller Anstrengungen. Wir verfolgen mit der Transformation zum Smart Hospital das Ziel, unsere Mitarbeiter durch die Digitalisierung zu entlasten, damit sie wieder mehr Zeit für die Patienten haben. 

Zu diesem Zweck haben wir in Essen unter anderem die elektronische Patientenakte flächendeckend eingeführt, die Administration und Dokumentation spürbar erleichtert und auch der Patientensicherheit nutzt. Darüber hinaus verfügen wir über eine digitale Notaufnahme für Non-Trauma-Patienten, eine der modernsten in Europa. Wir arbeiten zudem mittlerweile mit einer vollautomatischen Medikamentenvorbereitung und setzen Künstliche Intelligenz in der Radiologie ein – um nur einige Beispiele zu nennen. Daneben haben wir ein Institut für PatientenErleben gegründet, das sicherstellt, dass bei allen Digitalisierungsmaßnahmen der Mensch wirklich im Mittelpunkt steht. 

Nun geht es zum einen darum, dies alles weiterzuentwickeln. Zugleich gehen wir den Weg zum Smart Hospital weiter. Nächste Schritte sind hier etwa der Aufbau eines Service- und Informationscenters für ein professionelles Patientenmanagement oder unser Institut für Künstliche Intelligenz in der Medizin.