Therapeutische Hirnstimulation nach Maß

Für die Behandlung von Schlaganfällen, Depressionen und Alzheimer wollen Forscher einen Helm entwickeln, der räumlich und zeitlich hochaufgelöste Hirnstimulation ermöglichen soll.  „Wir wollen die nicht-invasive therapeutische Hirnstimulation revolutionieren“, so das Ziel von Professor Dr. Ulf Ziemann und seinem Team am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung, dem Universitätsklinikum Tübingen und der Universität Tübingen.

Gemeinsam mit Kollegen an der Aalto University in Finnland und der Universität Chieti-Pescara „Gabriele d’Annunzio“ in Italien entwickeln die Forscher den neuen Helm. Er soll mittels transkranieller Magnetstimulation (TMS) gezielt jeden Bereich der Großhirnrinde stimulieren können. Das Besondere: Diese Stimulation soll zeitlich abhängig vom augenblicklichen Aktivitätszustand des Gehirns erfolgen. Dank dieser Kopplung soll die Magnetstimulation Verbindungen zwischen Hirnbereichen besonders effektiv verändern. So sollen  – und so Hirnnetzwerkerkrankungen wie Schlaganfälle, Depressionen und Alzheimer lindern. „Langfristig erwarten wir eine breite therapeutische Anwendbarkeit der Technologie“, sagt Ziemann. Das Vorhaben „ConnectToBrain“ wird vom Europäischen Forschungsrat (ERC, Englisch: European Research Council) mit Forschungsgelder in Höhe von zehn Millionen Euro unterstützt.

Hirnstimulation synchron zur Gehirnaktivität

Bei der herkömmlichen TMS wird eine Magnetspule an den Kopf angelegt und das  Gehirn durch den intakten Schädel mit magnetischen Impulsen gereizt. Die Stimulation beeinflusst die Aktivität des Gehirns  – die Verbindungen zwischen Nervenzellen können so gestärkt oder geschwächt werden. „In der traditionellen TMS wird nach einem festen Protokoll gereizt und zwar völlig unabhängig von dem, was innerhalb des Gehirns gerade vor sich geht“, erläutert Ziemann. Die gehirneigene Aktivität sei allerdings Schwankungen unterworfen, sie ändere sich in Bruchteilen von Sekunden. „Wie wir in früheren Studien herausgefunden haben, ist TMS besonders wirksam, wenn die Stimulation synchronisiert zur Gehirnaktivität erfolgt“, so Ziemann.

Die von den Forschern entwickelte und stetig weiterentwickelte Closed-Loop-Stimulation basiert auf diesem Prinzip. Hierbei liest und wertet ein Elektroenzephalogramm (EEG) die Gehirnaktivität in Echtzeit aus. Angeschlossen ist eine TMS-Spule, die mithilfe eines Algorithmus die Impulse auf die Millisekunde genau zum Gehirnzustand synchronisiert aussendet. Diese Technologie wollen die Neurowissenschaftler nun verfeinern und einen Helm entwickeln, in dem neben den EEG-Elektroden 50 Magnetspulen integriert sind. „Durch die Überlagerung der Einzelspulen wird jeder Bereich der menschlichen Großhirnrinde abgedeckt sein und wir können dann nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich hoch aufgelöst stimulieren.“ Ziemann geht davon aus, dass die multi-locus transkranielle Magnetstimulation noch effektiver sein wird.

Spezialwissen gefragt

Zur Entwicklung des Helms ist Spezialwissen aus unterschiedlichen Bereichen erforderlich. „In das Projekt fließen die Expertisen aller drei beteiligten Forschungsgruppen synergetisch zusammen, im Alleingang wäre es auf diese Weise nicht umsetzbar“, betont Ziemann. Die finnische Arbeitsgruppe stellt die Spulen für den Helm her. Die italienischen Wissenschaftler entwickeln Algorithmen zur Echtzeitanalyse der Aktivitätszustände im Gehirn. Ziemann und seine Mitarbeiter sind dafür zuständig, die Technologie für die klinische Anwendung vorzubereiten. Für Anfang 2019 sind erste Tests mit gesunden Versuchspersonen geplant. In drei Jahren sollen dann Studien mit Schlaganfall- und Alzheimerpatienten folgen. „Mit Abschluss des Projektes in sechs Jahren ist das Gerät hoffentlich so weit ausgereift, dass wir mit der kommerziellen Herstellung beginnen können“, so Ziemann. Er geht davon aus, dass die Closed-Loop-Stimulation einen Paradigmenwechsel in der therapeutischen Hirnstimulation einläuten wird und eine breite therapeutische Anwendung in Kliniken und Praxen findet.