Neuer Risikorechner für drohendes Nierenversagen

Erstautorin der Studie: Prof. Helena Zacharias, Institut für klinische Molekularbiologie, CAU und UKSH sowie Klinik für Innere Medizin I, UKSH. (Foto: Helena Zacharias)

Wissenschaftler haben einen neuen Risikokalkulator für drohendes Nierenversagen vorgestellt. Ziel der Forschenden ist die Entwicklung einer klinischen Entscheidungsunterstützungs-App, die Ärztinnen und Ärzten bei der personalisierten Behandlung von Menschen mit chronischen Nierenerkrankungen unterstützt.

Bei der Diagnose einer Niereninsuffizienz ist es unklar, wie schnell die Krankheit fortschreitet und wann die Nieren vollständig ihren Dienst versagen, sodass eine Dialyse erforderlich wird. Bei einem Patienten ist das schnell der Fall, während sich bei einem anderen die Nierenfunktion jahrelang kaum verschlechtert. Für die Planung der Therapie ist es wünschenswert, Betroffene mit einem hohen Risiko für ein komplettes Nierenversagen möglichst frühzeitig zu identifizieren. Aus diesem Grund hat Professorin Helena Zacharias von der Medizinischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) innerhalb eines internationalen Forschungsverbunds zusammen mit Forschenden der Universitäten Regensburg (Prof. Dr. Peter Oefner) und Freiburg einen Risikokalkulator entwickelt.

„Wir können mit unserer Gleichung anhand von sechs routinemäßig verfügbaren Blut- und Urinwerten für einen neuen Patienten oder eine neue Patientin die Wahrscheinlichkeit eines dialysepflichtigen Nierenversagens ausrechnen“, sagt die Wissenschaftlerin, die auch Mitglied im Exzellenzcluster „Precision Medicine in Chronic Inflammation“ (PMI) ist. Die Grundlage für die Studie der Wissenschaftler bilden die Daten von 5.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern der German Chronic Kidney Disease (GCKD)-Studie, der weltweit größten Kohortenstudie zur chronischen Nierenerkrankung.

Neue Risikoformel

Mit Hilfe von maschinellem Lernen haben die Forschenden aus 22 Laborparametern sowie demographischen Daten und Körpermaßen diejenigen herausgefiltert, die zur Vorhersage des Nierenversagens maßgeblich sind. Die neue Risikoformel umfasst die sechs Laborparameter Serum-Kreatinin, -Albumin, -Cystatin C und -Harnstoff, zusätzlich zu Hämoglobin und dem Albumin-zu-Kreatinin-Verhältnis im Urin. „Unsere Risikogleichung erreichte eine hohe Vorhersageleistung sowohl innerhalb der GCKD-Studie als auch in drei unabhängigen, internationalen Validierungskohorten, die insgesamt über 3.000 Patientinnen und Patienten mit chronischer Nierenerkrankung umfassten“, so Zacharias. Diese Validierungskohorten umfassten Patientinnen und Patienten der französischen CKD-REIN Studie, der englischen SKS Studie und der MMKD Studie aus Österreich, Südtirol und Deutschland.

Bessere Vorhersagekraft

In der Studie haben die Wissenschaftler zudem die Vorhersagekraft der neuen Risikogleichung mit der bisher verwendeten sogenannten Tangri-Formel verglichen. „Der 2012 publizierte Tangri-Score zur Prognose eines Nierenversagens beruht auf vier Variablen (Alter, Geschlecht, geschätzte glomuläre Filtrationsrate, Albumin-zu-Kreatinin-Verhältnis im Urin). Dieser gilt derzeit als Goldstandard, um Nierenversagen vorherzusagen. Wir konnten zeigen, dass unser Score eine signifikant bessere Vorhersagekraft hatte als der Tangri-Score“, so Zacharias. „Wir haben unseren Score auch als online-Service zu Forschungszwecken zur Verfügung gestellt. Benutzer und Benutzerinnen können hier die Werte für die sechs Parameter eingeben und erhalten dann das Risiko für ein Nierenversagen innerhalb der nächsten ein bis vier Jahre.“

„Die Anwendung dieser Risikogleichung in der klinischen Praxis verspricht eine verbesserte Versorgung von chronisch Nierenkranken. Sie erlaubt uns, Personen zu identifizieren, die von einer intensivierten fachärztlichen Betreuung profitieren würden“, erklärt GCKD-Studienleiter Professor Kai-Uwe Eckardt von der Charité – Universitätsmedizin Berlin.

App für die personalisierte Versorgung

Die Arbeiten von Helena Zacharias sind Teil des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten e:Med-Nachwuchskonsortiums „CKDNapp“. Zacharias ist wissenschaftliche Koordinatorin dieses Juniorverbunds, der aus vier unabhängigen Nachwuchsgruppen besteht. „Unser Ziel ist es, eine benutzungsfreundliche klinische Entscheidungsunterstützungs-Software in Form einer App zu entwickeln, die Ärztinnen und Ärzten bei der personalisierten Behandlung von Menschen mit chronischen Nierenerkrankungen unterstützt“, verrät die Wissenschaftlerin. Die App soll unerwünschte medizinische Ereignisse und Krankheitsverläufe vorhersagen. Außerdem soll sie die  Diagnose von chronischen Nierenerkrankungen verfeinern, eine transparente Begründung aller Vorhersagen und Empfehlungen liefern, eine Modifizierung von Patientenparametern ermöglichen und eine umfassende Unterstützung durch Literatur bieten.

Das ist die GCKD

Die German Chronic Kidney Disease (GCKD)-Studie wurde 2009 als weltweit größte Kohortenstudie für chronische Nierenerkrankung (engl. chronic kidney disease, CKD) angelegt. Seit über zehn Jahren arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von elf Universitäten in der vom Universitätsklinikum Erlangen koordinierten Studie mit über 150 niedergelassenen Nierenfachärztinnen und -ärzten zusammen, um etwa 5000 Menschen mit CKD zu beobachten. Im zweijährigen Rhythmus werden Biomaterialien in einer zentralen Biobank gesammelt. Hauptziele der Studie sind, mit Hilfe moderner Analysetechniken bislang nicht beschriebene Risikofaktoren und Marker zu identifizieren, die mit dem Fortschreiten von Nierenerkrankungen und Herz-Kreislauf-Komplikationen assoziiert sind. Langfristig sollen daraus neue diagnostische und therapeutische Ansatzpunkte abgeleitet werden.