ÄrztInnen und Psychotherapeutinnen sind zunehmend enttäuscht angesichts unreifer und wenig praxistauglicher digitaler Anwendungen. Diese Ernüchterung könnte für die Digitalisierung des Gesundheitswesens zum echten Problem werden.
Zwar stehen die niedergelassenen ÄrztInnen und Psychotherapeutinnen der Digitalisierung weiterhin offen gegenüber, wie dem PraxisBarometer Digitalisierung 2021 hervorgeht, das das IGES Institut zum vierten Mal im Auftrag der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) durchgeführt hat. Der Frust angesichts unreifer und wenig praxistauglicher digitaler Anwendungen wird jedoch immer größer. „Das ist besonders deshalb tragisch, weil der Großteil der Ärzteschaft der Digitalisierung gegenüber eigentlich positiv eingestellt ist und sich durch sie Vorteile für die Versorgung erhofft“, so Dr. Stephan Hofmeister, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der KBV. Voraussetzung für die Akzeptanz ist jedoch, dass neue Anwendungen den Praxisalltag erleichtern und die Patientenversorgung verbessern. „Der Nutzen ist entscheidend“, so Dr. Thomas Kriedel, Mitglied des Vorstands der KBV. Dieser Nutzen sei im letzten Jahr aber immer seltener erkennbar gewesen.
Fehleranfälligkeit behindert Praxisalltag
Vor allem jüngere ÄrztInnen sind dem PraxisBarometer zufolge offen gegenüber digitalen Anwendungen: 94 Prozent der Unter-50-Jährigen sind an die Telematikinfrastruktur (TI) angeschlossen. Gleichzeitig haben die Niedergelassenen jedoch mit deren Fehleranfälligkeit zu kämpfen. So berichten 50 Prozent der befragten Praxen, dass es mindestens wöchentlich zu Fehlern bei der TI-Nutzung kommt. 18 Prozent der Befragten müssen sogar tägliche Störungen in Kauf nehmen.
Zwei Drittel der Befragten bewerten die Fehleranfälligkeit als starkes Hemmnis für die Digitalisierung im Gesundheitswesen. 65 Prozent bemängeln das ungünstige Kosten-Nutzen-Verhältnis digitaler Anwendungen. Etwas mehr als die Hälfte der Praxen kritisiert zudem die die fehlende Nutzerfreundlichkeit. Im Vergleich zum Jahr 2020 sind das 14 Prozent mehr.
Ausfälle gefährden Akzeptanz der Digitalisierung
„Ausfälle und technische Mängel sorgen nicht nur für Frust und Mehraufwand, sie setzen auch die generelle Akzeptanz der Digitalisierung aufs Spiel“, warnt Kriedel. Es werde jetzt deutlich mühevoller, die Überzeugungsarbeit zu leisten. „Ich hoffe, dass sich Politik, Gematik und Industrie darüber im Klaren sind.”
Videosprechstunde mit klarem Nutzen
Das Beispiel der Videosprechstunde zeige hingegen, dass Digitalisierung mit klarem Nutzen auch schnell Anwendung im Versorgungsalltag finden könne, so der KBV-Vize. „Die Videosprechstunde hat während der Pandemie geholfen, Kontakte zu reduzieren und trotzdem die Versorgung aufrechtzuerhalten. Entsprechend stark wurde sie auch angeboten und nachgefragt“, so Hofmeister. Sie sei aber nicht der berühmte Gamechanger, der alles ändere. Dazu sei ihr Einsatzgebiet zu begrenzt. „Der persönliche Arzt-Patienten-Kontakt ist und bleibt der Goldstandard.“
Versprochene Vorteile müssen ankommen
In Bezug auf die Digitalisierung ist die Stimmungslage in den Praxen angespannt. „Die Befragung macht einmal mehr deutlich, wie wichtig es ist, dass die versprochenen Vorteile der Digitalisierung auch endlich in den Praxen ankommen. Grundlage dafür wird sein, die neuen Anwendungen ausgiebig und mit genügend Vorlauf zu testen“, so Kriedel. Hierbei sollte der Gesetzgeber die Empfehlungen des eigenen Nationalen Normenkontrollrats beherzigen.
„Wenn die dafür vorgesehenen Fristen nicht das Ergebnis bringen, das wir in der Versorgung brauchen, dann bringt es auch nichts, wenn Politik sagt ‚Wir machen es trotzdem“, ergänzt Hofmeister. Er erwartet von der neuen Bundesregierung einen Kurswechsel. Der im Koalitionsvertrag versprochene, „versorgungsrelevante Ausbau“ der Digitalisierung sollte nun auch umgesetzt werden. So würde Digitalisierung in den Praxen nicht länger als notwendiges Übel wahrgenommen werden, das bestenfalls zwar gut gemeint, aber schlecht gemacht sei. Es gelte, mit Nutzen zu überzeugen, statt mit der Brechstange.