Digitales Management für MS-Patienten

Professor Tjalf Ziemssen begleitet eine Patientin bei der Ganganalyse
Professor Tjalf Ziemssen begleitet eine Patientin bei der Ganganalyse, die zur jährlichen Basisdiagnostik von Multiple-Sklerose-Patienten am Uniklinikum Dresden gehört. (Foto: Uniklinikum Dresden/Holger Ostermeyer)

Mit dem Projekt „QPATH4MS“ wird jetzt erstmals bundesweit ein digitales Qualitätsmanagementkonzept in die Multiple Sklerose-Behandlung integriert, dass neben der Perspektive des Arztes auch die der Patienten berücksichtigt. 

Anfang des Monats fiel der offizielle Startschuss für das Versorgungsprojekt „Pfadgestütztes Qualitätsmanagement in der MS-Versorgung“ (abgekürzt: QPATH4MS): Die Projektpartner Carus Consilium Sachsen GmbH, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden, Technische Universität Dresden, die MedicalSyn GmbH sowie die Symate GmbH erhielten hierfür die Förderbescheide des Sächsischen Staatsministeriums für Soziales. Das Vorhaben wird aus Mitteln des Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE) und des Freistaates Sachsen in Höhe von 1,7 Millionen Euro gefördert.

Die Summe steht zur Verfügung, um das Behandlungsmanagement von MS-Patienten erstmals in eine elektronische Plattform zu integrieren. Damit sollen die Versorgungsqualität, die Patientenzufriedenheit und die Informationstransparenz deutlich verbessert werden.

Uniklinikum mit Digital Health-Expertise

Zentraler Knotenpunkt für QPATH4MS ist das Multiple Sklerose Zentrum (MSZ) an der Klinik für Neurologie des Dresdner Uniklinikums. Mit monatlich rund 1.000 Patienten ist es das größte akademische MS-Zentrum Deutschlands. In dieser Einrichtung steht neben einer klinisch-interdisziplinären Versorgung von Multiple-Sklerose-Patienten auch die Wissenschaft mit dem Bereich Digital Health im Vordergrund: Seit mehr als 20 Jahren werden hier MS-spezifische Patientendokumentationssysteme sowie die Anwendung digitaler Konzepte im Versorgungsalltag erst erprobt und dann in der Routine eingesetzt.

Hiervon sollen die MS-Patienten profitieren. Beispiele dafür sind digitalisierte Testverfahren und Fragebögen, mit denen subjektiv empfundene Einschränkungen durch die Erkrankung erfasst werden. Auf diese Weise können Patienten selbständig beziehungsweise angeleitet durch Mitarbeiter des Zentrums ihren Zustand eigenständig dokumentieren.

Das digitalisierte Monitoring ermöglicht das regelmäßige Dokumentieren des Ist-Zustandes, die Kontrolle des Krankheitsverlaufs sowie das Verwalten dieser Daten im Rahmen der MS-Versorgung. Durch das digitale Erheben dieser Daten lassen sich zeitliche, personelle und räumliche Engpässe vermeiden sowie ganzheitlich und umfangreich Daten zu weitergehenden Analysen und zum „MS-Management 2.0“ sammeln. Dies erweitert die Zeit für Arzt-Patienten-Gespräche.

Aufbauend auf bereits erfolgreich integrierte digitale Instrumente steht nun mit QPATH4MS nun ein weiterer Sprung in Richtung personalisiertes und digitales MS-Management an. Dafür sollen einrichtungsübergreifende konsentierte Behandlungspfade für MS-Patienten entwickelt werden, die mit Qualitätsindikatoren aus Medizin, Gesundheitsökonomie und Technologie versehen werden.

Professor Michael Albrecht, Medizinischer Vorstand des Universitätsklinikums Dresden, sieht in der intensiveren Patientenintegration einen entscheidenden Versorgungsvorteil: „Das althergebrachte Rollenverständnis des Patienten, der Therapien und die ärztlichen Entscheidungen passiv hinnimmt, gehört zunehmend der Vergangenheit an. Vielen sind die Vorteile bewusst, sich aktiv in den Behandlungsprozess einzubringen. Doch dafür bedarf es großer Transparenz auf allen Seiten. Das heute startende Projekt des pfadgestützten Qualitätsmanagements in der MS-Versorgung ist hierfür ein sehr gutes Beispiel, das hoffentlich Vorbild für die Versorgung anderer chronischer Erkrankungen sein wird.“

Zielgerichtete Leistungsinanspruchnahme

Gesundheitsökonomisch beinhaltet Multiple Sklerose nicht ausschließlich direkte, durch die Erkrankung selbst verursachte Kosten. Einen nicht zu unterschätzenden Faktor stellen die indirekten Kosten dar, die zum Beispiel für den Erhalt der Arbeits- oder Erwerbsfähigkeit notwendig sind. Auch aus dem Umstand, dass rund 80 Prozent aller MS-Patienten zusätzlich Leistungen aus mindestens drei verschiedenen Versorgungsbereichen beziehen (etwa Orthopäde, Neuroophthalmologe, Allgemeinmediziner, Psychologe und auch Radiologe), ergibt sich die Notwendigkeit, die Versorgung stärker sektorenübergreifend zu planen und zu steuern.

Durch das mit QPATH4MS neu entwickelte pfadbasierte Behandlungsmanagement können Patienten und Angehörige künftig zielgerichteter Leistungen des Gesundheitswesens in Anspruch nehmen, deren Qualität für Ihre individuelle Erkrankungssituation besser einschätzen und somit auch selbst managen. „Patienten und Angehörige erhalten dadurch mehr Klarheit über die Erkrankung und den notwendigen Behandlungs- und Versorgungsprozess. Unnötige stationäre Aufenthalte als auch Mehrfachbehandlungen und -untersuchungen lassen sich vermeiden. Dadurch wird letztlich das Gesundheitswesen entlastet und es werden deutliche Kosteneinsparungen erzielt“, sagt Professor Heinz Reichmann, Direktor der Klinik für Neurologie und Dekan der Medizinischen Fakultät Carl Gustav Carus der TU Dresden.

Bessere Patientenintegration

Da sich beim Krankheitsbild Multiple Sklerose das Versorgungsteam in der Regel aus mehreren, institutions- und sektorenübergreifenden Akteuren zusammensetzt, ist für eine erfolgreiche Behandlung die Integration des Patienten als „Mitentscheider“ von besonderer Bedeutung. Patienten, die aktiv in ihren Behandlungsprozess involviert sind, zeigen eine höhere Therapieadhärenz und damit bessere Behandlungsergebnisse. Dadurch lässt sich auch das Risiko einer Arbeits- oder Erwerbsunfähigkeit infolge einer Krankheitsprogression verhindern. Neben dem direkten Arzt-Patienten-Kontakt dienen unter anderem elektronische Patientenportale als Werkzeug, den Patienten in den MS-Behandlungsprozess einzubeziehen. Ein solches Patientenportal wird derzeit auch am Multiple Sklerose Zentrum entwickelt und getestet. MS-Patienten werden im Rahmen von Workshops und Befragungen von Anfang an in die Gestaltung der Anwendung miteinbezogen. Das Portal soll es MS-Patienten unter anderem erlauben, ihren vergangenen und geplanten Behandlungsverlauf zu verfolgen und mit Leistungserbringern zu korrespondieren. Patienten sollen zum Beispiel zusätzliche Informationen zu ihrer individuellen Erkrankung erhalten und in verständlicher Form Befunde sowie andere medizinisch-relevante Daten wie Medikationshinweise ihrer Behandlung einsehen können.

Qualitätssicherung beim Behandlungsmanagement

Damit der Behandlungsverlauf für den Patienten nachvollziehbar ist, wird dieser im Projekt QPATH4MS elektronisch abgelegt, strukturiert und sowohl für Arzt als auch für Patient visualisiert. Zur Auswertung des Behandlungserfolgs und der Qualität der Versorgung werden zudem Qualitätsindikatoren integriert. Nur so können beide, der Patient und der Arzt, auch die Qualität der Behandlung überprüfen. Der Patient kann zudem die Krankheit besser verstehen und zu einer erfolgreichen Therapie beitragen. Da Patientenportale im deutschen Gesundheitswesen bisher nur wenig mit dem tatsächlichen Behandlungsverlauf verknüpft sind und damit auch nicht zur Versorgungssteuerung und zum Qualitätsmanagement eingesetzt werden, stehen bisher auch keine entsprechenden Qualitätsmanagementwerkzeuge und Visualisierungsmöglichkeiten für Patienten und Ärzte zur Verfügung. „Solche Werkzeuge spielen aber für ein optimales Management von MS-Patienten eine herausragende Rolle und sind somit ein wichtiger Baustein für einen erfolgreichen multidisziplinären Behandlungsansatz, der alle an der Behandlung beteiligten Akteure miteinschließt“, erklärt Prof. Tjalf Ziemssen, Leiter des MS-Zentrums sowie des Zentrums für klinische Neurowissenschaften am Dresdner Uniklinikum. Der neue Ansatz ermöglicht gleichzeitig die Rückkopplung zum medizinischen Fachexperten. Auch hierfür existieren bislang noch keine ausreichenden technischen Werkzeuge.

Krankheitsbild Multiple Sklerose In Deutschland leiden mehr als 250.000 Menschen an MS. Hierbei handelt es sich um die häufigste chronisch-entzündliche, degenerative Erkrankung des zentralen Nervensystems, deren Erstdiagnose vorwiegend bei Menschen zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr gestellt wird, also bei Menschen, die zu Beginn oder mitten in ihrem (beruflichen) Leben stehen. In den meisten Fällen beeinträchtigt die MS die Lebenserwartung der Betroffenen kaum. MS ist derzeit noch nicht heilbar, doch eine früh im Krankheitsverlauf begonnene Therapie kann das Voranschreiten der Erkrankung hemmen.