Die Digitalisierung stellt die Gesundheitsbranche vor große Herausforderungen. In seinem Gastbeitrag auf mednic erläutert Gerd Helmreich, wie Design als Katalysator in der Digitalisierung fungieren kann. Seit 1985 verantwortet der diplomierte Industriedesigner die Bereiche Medical und Industrie bei der designaffairs-Gruppe, deren Mitinhaber und Geschäftsführer er seit 2007 ist.
Spätestens mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts erfasste die Digitalisierung unsere Gesellschaft und verändert seitdem in vielen Bereichen unseren Alltag: Putzroboter nehmen uns Reinigungsaufgaben ab und Kochhilfen erleichtern uns das Kochen dank digitaler Rezeptdatenbanken. Die Entertainment-Branche präsentiert mit dem Smartphone das bis jetzt am meisten vernetzte und zunehmend auch intelligente Produkt. Die Beispiele zeigen, dass es die meisten Branchen schaffen, die technologischen Chancen der Digitalisierung vorbildlich zu integrieren. In Sachen Digitalisierung hat die Gesundheitsbranche eher den Ruf der Dinosaurier zu sein. Stimmt das? Inwieweit haben sich digitale Produkte und Prozesse in der Gesundheitsbranche etabliert?
Die digitale Zukunft der Gesundheitsbranche
Stellen wir uns vor: Die Röntgenaufnahme wird durch ein komplett autonomes System gesteuert. Pfleger und Ärzte haben dadurch mehr Zeit, ihren Fokus auf die Behandlung des Patienten zu legen. Oder: Ärzte tragen während der Operation VR-Brillen, können so alle bestehenden Aufnahmen zusammengefügt in einem Bild sehen und so den weiteren Verlauf der OP planen. Neben diesen futuristischen Szenarien belegen aktuelle Prognosen, dass der Gesundheitsbranche große Veränderungen bevorstehen: Der digitale Gesundheitsmarkt soll bis 2020 von 80 auf 200 Milliarden Dollar Umsatz steigen. Damit das in den Kliniken Realität wird, müssen jedoch Kernthemen der Digitalisierung, wie Konnektivität, Simplifizierung und digitale Services, auf die Gesundheitsbranche gemünzt werden. Was genau ist damit gemeint?
Die Gesundheitsbranche muss sich vernetzen
Konnektivität bezeichnet die neue Organisation unserer Gesellschaft in Netzwerken. Wir kommunizieren dank des „Internets der Dinge“ nicht mehr nur direkt mit anderen Menschen, sondern auch mit beziehungsweise durch Maschinen. Diese Veränderung muss in den Healthcare-Bereich Einzug halten. Das betrifft einerseits die Interaktion zwischen Arzt beziehungsweise medizinischer Fachkraft und medizinischem Gerät. Siemens ist hier einer der Vorreiter: Mit dem Somatom Go Now erkennt das Unternehmen die HMI-Schnittstelle als wesentlichen Bestandteil eines medizinischen Geräts und hat den Computertomografen dahingehend optimiert. Pflegekräfte können durch das neue Bedienkonzept mit Hilfe eines Touchpads individuelle Einstellungen vornehmen, etwa Größe und Gewicht des Patienten, die Standardgeräte so nicht zulassen. Neu ist vor allem ein „flexibler Workflow“ bei dem die Medizinisch-technische Radiologieassistenz (MTRA) mit dem Tablet unabhängig vom Gerät ist.
Andererseits bedarf es eines vernetzten Umgangs mit Daten, denn Big Data spielt auch im Klinikalltag eine immer größere Rolle. Der Datenaustausch und -bearbeitung rund um Klinikaktivitäten muss für die Berechtigten einfacher werden. Es braucht Prozesse, die es ermöglichen, große Datenmengen, geschützt und gleichzeitig effizient zu übertragen. Denn der Austausch von Analysen, Diagnosen und Therapieempfehlung zwischen den behandelnden Ärzten muss flexibler und leichter werden. In diesen Prozessen darf auch der Patient nicht vergessen werden: seien es Röntgenbilder, Diagnosen oder einfach nur Ultraschallaufnahmen vom Embryo, die man den Großeltern zeigen kann – und die daher auch dem Patienten schnell und unkompliziert zur Verfügung gestellt werden müssen. Je weiter die Digitalisierung fortschreitet, desto mehr will das menschliche Verlangen nach Selbstbestimmung erfüllt sein. Ein anderer Aspekt der Datenthematik ist die Instandhaltung medizinischer Geräte. Das Supply Chain Management sollte beispielsweise durch Applikationen verwaltet werden, so dass der pharmazeutische Zulieferer über den Bedarf an Kontrastmitteln Bescheid weiß und frühzeitig nachliefern kann.
Simplifizierung und Digital Services
Im Healthcare-Bereich gibt es oft komplexe und vielschichtige Prozesse. Das macht die tägliche Arbeit langwierig und kompliziert. Wenn sich zudem der Trend verkürzter Ausbildungen wie in den USA für medizinische Fachkräfte festigt und auch in Europa Einzug hält, führt das nicht nur zu Ineffizienz, sondern zu schwerwiegenden Problemen in der Patientenbehandlung. Hier kommt die Simplifizierung ins Spiel: Vorhandene Prozesse und Geräte müssen vereinfacht sowie Prozesse und Informationsmengen auf ein adäquates Mindestmaß reduziert werden. Denn eine smarte und reduzierte Nutzerführung erlaubt es auch weniger qualifizierten Anwendern, die vorgegebenen Abläufe sicher durchzuführen.
Das dritte Kernthema der Digitalisierung sind digitale Services. Unsere Gesellschaft bewegt sich immer mehr dahin, dass nicht mehr die Herstellung des Produkts im Zentrum steht, sondern vielmehr die mit einem Produkt verbundenen Dienstleistungen. Diese fundamentale Veränderung wird auch die Gesundheitsbranche erreichen. Beispielsweise werden Gerätehersteller sich auf Serviceangebote rund um Datenerzeugung, -analyse und -auswertung spezialisieren, die Herstellung von Geräten wird sekundär sein.
Katalysator und Menschlichkeitsfaktor
Die Gesundheitsbranche steht vor einem Umbruch. Offen bleibt, wie der Wandel hin zur Vernetzung vonstatten gehen wird. Dass Design einen fließenden Übergang in eine digitalisierte Welt ermöglicht, wenn nicht sogar beschleunigt, zeigt sich in anderen Bereichen, wie zum Beispiel der Automobilbranche. Hier beeinflusst Design eine ganze Reihe an Technologien – Stichwort Sensorik oder Touchoberflächen. An diesem Punkt setzen strategische Design Consulting Agenturen wie designaffairs an und entwickeln Konzepte für einen digitalen Brückenschlag. Denn wir sehen im Medical-Design entscheidendes Potential, um Anstoß für die Digitalisierung zu geben.
Bei all diesen Entwicklungen dürfen wir jedoch ein Element nicht vergessen: den Menschen. Die Digitalisierung soll in erster Linie unser Leben verbessern und vereinfachen. Das bedeutet allerdings nicht, dass wir dafür die Verantwortung abgeben können – das Gegenteil ist der Fall. Deswegen ist es unabdinglich, dem Menschen als Arzt, Pflegekraft und Patient diese immer komplexere und technologischere Welt verständlich zu machen. Diese Aufgabe liegt beim Medical-Design. Es muss die digitalen Änderungen erklärbar sowie intuitiv nutzbar machen und dabei auch mögliche Skepsis auf Seiten der Nutzer abbauen.
Fazit: Der Mensch muss stets im Zentrum stehen
Inwieweit haben sich digitale Produkte und Prozesse in der Gesundheitsbranche bereits etabliert? Die Eingangsfrage kann nach dem gezeigten Status Quo klar beantwortet werden: Im Healthcare-Bereich ist die Erkenntnis, dass digitale Technologien von großem Vorteil sein können, noch zu wenig im Bewusstsein verankert. Fakt ist, dass ein fundamentaler Wandel hin zur Digitalisierung bevorsteht, und notwendig ist. Dabei nimmt das Medical-Design eine spezielle Rolle ein. Es muss den Wandel anstoßen und gleichzeitig darauf achten, dass stets im Sinne des Menschen gehandelt wird. Denn im Healthcare-Bereich geht es mehr als in allen anderen Bereichen unserer Gesellschaft um den Menschen und sein Wohl.