Die Digitalisierungsbeauftragte der Bundesregierung Dorothee Bär kritisiert in einem Zeitungsinterview die Selbstverwaltung und macht sie verantwortlich für das Schneckentempo bei der Digitalisierung im Gesundheitsbereich. Auf gefährliches Terrain begibt sie sich aber mit ihrer Forderung, durch Abstriche beim Datenschutz das Tempo zu erhöhen.
Wir meinen: Mit ihren Kritikpunkten liegt Dorothee Bär goldrichtig, doch wer in Sachen Datenschutz an den falschen Stellschrauben dreht, erntet nicht etwa ein modernes Gesundheitswesen, sondern ein undemokratisches Belohnungs- und Bestrafungssystem, wie es bislang nur China vorantreibt.
In einem Interview mit der Zeitung Welt am Sonntag forderte die Beauftragte der Bundesregierung für Digitalisierung kürzlich Abstriche beim Datenschutz: „Wir haben in Deutschland mit die strengsten Datenschutzgesetze weltweit und die höchsten Anforderungen an den Schutz der Privatsphäre“, sagte sie. „Das blockiert viele Entwicklungen im Gesundheitswesen, deshalb müssen wir da auch an der einen oder anderen Stelle abrüsten, einige Regeln streichen und andere lockern.“
Kritik an Selbstverwaltung
Der zentrale Punkt ihrer im Interview geäußerten Kritik trifft allerdings die Selbstverwaltung: Dass Krankenkassen, Ärzteverbände und andere Organisationen Entscheidungen über Honorare, aber auch wichtige Neuregelungen wie bei der elektronischen Patientenakte untereinander aushandeln können, hält sie – zu Recht – für fragwürdig. „Mich frustriert, dass die Prozesse der Selbstverwaltung so wahnsinnig lange dauern. Und ganz ehrlich, Selbstverwaltung klingt nicht nur wie Selbstbeschäftigung, ganz häufig beschäftigen sich diese Gremien auch vor allem mit sich selbst“, sagte Bär. Die Beauftragte der Bundesregierung bezweifelt, dass die Selbstverwaltung in ihrer bisherigen Form noch zeitgemäß ist. „Zum Glück zwingt uns die Digitalisierung, alle Systeme infrage zu stellen und auch mal zu überlegen, ob tatsächlich alles noch zeitgemäß ist, was sich im Laufe der Jahre eingeschliffen hat.“
Die Lobby wird es richten
Die angesprochenen Organisationen dürften die Interviewaussagen von Bär als Warnschuss verstehen und sich für drohende Auseinandersetzungen in Stellung bringen. Nur selten kommt es schließlich vor, dass jahrzehntelang etablierte bürokratische Strukturen für ihre eigene Entmachtung oder gar Abschaffung plädieren. Wahrscheinlich können sich Ärztevertreter und Kassen jedoch entspannt zurücklehnen, schließlich ist die CSU-Politikerin nicht für die Gesundheitspolitik, sondern lediglich im Verkehrsministerium für die Bereitstellung einer technischen Infrastruktur zuständig. Dass ihr Kollege Jens Spahn ähnlich tickt, ist da schon gefährlicher. Dennoch haben sich im Gesundheitswesen über Jahrzehnte einflussreiche Seilschaften etabliert, die bisher noch jedwede politische Ambition ihrer Entmachtung erfolgreich abgewehrt haben.
Keine Frage: Dorothee Bär liegt vollkommen richtig, wenn sie die seit 15 Jahren verschleppte Einführung einer elektronischen Gesundheitskarte, die diesen Namen verdient, massiv kritisiert. Den Lobbyisten von einigen Ärzteverbänden, Krankenkassen und Kliniken ist es damit gelungen, Deutschland auf ein Innovationstempo zu bremsen, wie man es bisher nur von längst nicht mehr existenten Sowjetrepubliken kannte. Dass Deutschland beim Digital Economy and Society Index (DESI) im Bereich Digitale öffentliche Dienste/E-Health fortgesetzt nur den 21. Rang innerhalb der EU-Staaten erreicht, spricht für sich.
Entschlackungskur
Es mutet erfrischend aufrichtig an, wenn Dorothee Bär hier für eine Modernisierung zulasten bestehender bürokratischer Strukturen plädiert. Ja, wenn die Digitalisierung im Gesundheitswesen eine staatlich verordnete Entschlackungskur mitbrächte und die gesetzlich Versicherten endlich nur noch für ihre Gesundheit und weitaus weniger für den Erhalt eines Verwaltungsapparates von luxuriösen Ausmaßen bezahlen müssten – das wäre ein absolut sinnvoller Fortschritt!
Riskante Operation
Eine gefährliche Debatte stößt Bär im Zeitungsinterview allerdings damit an, wenn sie sich für Abstriche beim Datenschutz einsetzt, um die Digitalisierung im Gesundheitswesen voranzutreiben. Sie liegt zwar nicht völlig falsch, aber hier steckt der Teufel im Detail: Zwar stimmt es, dass Entwicklungen im Gesundheitswesen durch einige überstrenge und teilweise antiquierte Regelungen massiv ausgebremst werden. Doch wer für eine „Abrüstung“ plädiert, macht sich womöglich unbeabsichtigt zum Handlanger all derer, die zum fortgesetzten Erhalt ihrer Bürokratie den gläsernen Patienten wünschen, der – digital überwacht – nicht nur für Präventionsmaßnahmen belohnt, sondern auch für Fehlverhalten bestraft werden kann. Sollte die Digitalisierung durch Abstriche im Datenschutz an der falschen Stelle zur Etablierung eines Kontroll- oder Überwachungssystems für Patienten genutzt werden, wäre dies ein massiver Eingriff in die Bürgerrechte.