Analoge Strukturen blockieren Telemedizin

Die Mehrheit der Menschen in Deutschland ist offen für Telemedizin, so das Ergebnis einer aktuellen Studie. Allerdings haben nur die wenigsten Bundesbürger telemedizinische Lösungen bereits ausprobiert. Droht die Telemedizin an mangelnden Angeboten zu scheitern?

Mehr als die Hälfte der Bundesbürger hält Telemedizin für einen wichtigen Baustein zur Verbesserung des Gesundheitssystems. Die Deutschen begrüßen die Kommunikation mit einem Arzt über Computer, Tablet oder Smartphone – und das viel häufiger als beispielsweise Belgier, Franzosen oder Spanier. Allerdings fehlen bislang die praktischen Lösungen und die digitale Infrastruktur. Zu diesem Ergebnis kommt die Studie „European Study on the Digitalisation of the Healthcare Pathways“ von Sopra Steria Consulting, für die 1.200 Bürger aus Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Norwegen und Spanien sowie 35 Gesundheitsexperten befragt worden sind.

Hohe Erwartungen – keine Angebote

53 Prozent der Deutschen sind laut Studie der Ansicht, dass Lösungen wie der Einsatz von Fernsprechstunden und ortsunabhängige Betreuung ein wichtiger Durchbruch für das Gesundheitssystem sind. Damit liegen sie über dem Durchschnitt der untersuchten Länder (47 Prozent). Allerdings haben laut Umfrage nur sieben Prozent der Deutschen telemedizinische Lösungen wie Videoberatungen bereits in der Praxis ausprobiert, so die Umfrage. Außerdem sind lediglich 21 Prozent der Bundesbürger mit dem aktuellen Telemedizin-Angebot zufrieden, weniger als in jedem anderen untersuchten Land. Ein Grund für die mangelnde Zufriedenheit: Das Angebot hinkt der Nachfrage hinterher. Ärzte verwenden oft wenige technische Geräte zur Kommunikation, und es mangelt an effektiven Lösungen. 

Analoge Prozesse blockieren

Die Marktforscher sind sich sicher: Nicht Patienten, die der Technologie skeptisch gegenüberstehen, blockieren die Entwicklung. Schuld sind vielmehr die analogen Prozesse. Viele Ärzte führen noch Papierkalender, statt Termine digital zu vergeben. Für eine Videoberatung sind die wenigsten Mediziner technisch ausgestattet. Anreize, das zu ändern, gibt es kaum. Denn die Vergütungsregeln für Ärzte sind noch nicht für das digitale Zeitalter ausgelegt. Bislang können Ärzte eine Fernbehandlung ohne direkten Kontakt nur bei Privatpatienten problemlos abrechnen, kritisieren die Marktforscher.

An Reformvorhaben mangelt es nicht: Seit mehr als einem Jahr dürfen Ärzte auch über das Internet ihre Patienten behandeln. Der Deutsche Ärztetag hatte 2018 das Fernhandelsverbot gelockert, nach dem Ärzte nur persönlich beraten durften. Mediziner in Praxen und Kliniken können sich erkrankte Patienten nun per Video auf Computer oder Tablet ansehen. Private Krankenhausbetreiber wie Asklepios und Fresenius arbeiten zudem an neuen Lösungen für Plattformen, die den digitalen Arztbesuch ermöglichen. Ziel ist, Telemedizin als Maßnahme gegen den Ärztemangel auf dem Land zu nutzen und gleichzeitig neue Umsatzquellen zu gewinnen. Auch Vertreter von Krankenkassen glauben an eine effizientere und effektivere Gesundheitsversorgung durch Fernkonsultation.

Doppelte Versorgungslücke

Auch die digitale Infrastruktur erweist sich als Hürde für die Telemedizin in Deutschland. Die befragten Gesundheitsexperten warnen in der Studie vor einer „doppelten Versorgungslücke“. Denn zwar könnte Telemedizin dabei helfen, die medizinische Versorgungslücke in ländlichen Regionen zu schließen. Doch gerade in diesen abgelegenen Gebieten ist das schnelle Internet noch nicht angekommen. Daher drohen Einbußen bei der Qualität der Telekonsultationen. Ärzte können unter anderem durch schlechte Bildübertragungen Schwierigkeiten haben, Symptome richtig zu erkennen und zu deuten, beispielsweise kritische Hautreizungen oder Verfärbungen.

Auch ältere Bürger, Behinderte und andere Personengruppen, die Schwierigkeiten haben, die Strecke zum Arzt zu bewältigen, könnten von der Telemedizin profitieren. Akteure im Gesundheitssystem müssen deshalb vor insbesondere für diese Zielgruppen barrierefreie Lösungen entwickeln. Zudem braucht es beim Breitbandausbau einen flächendeckenden Mindeststandard. Nur so kann Telemedizin künftig ohne „weiße Flecken“ verfügbar gemacht werden und deutlich mehr ambulante Versorgung ermöglichen. Eine kostenlose Zusammenfassung der Studie steht online zur Verfügung.