Im Gegensatz zu einem digitalen Zwilling, der lediglich eine digitalisierte Kopie des Ist-Zustands abbildet, bündelt der virtuelle Zwilling Informationen und Know-how, auf das alle beteiligten Personen zugreifen können. Das sorgt für echte Fortschritte.
In seinem Gastbeitrag zum Thema „Virtueller Zwilling im Gesundheitswesen“ schildert Steve Levine, Sr. Director Virtual Human Modeling bei Dassault Systèmes, wie sich durch den Einsatz eines virtuellen Zwillings wertvolle Erkenntnisse gewinnen lassen, um die Patientenversorgung sinnvoll zu optimieren.
Der virtuelle Zwilling: Großes Potenzial für die Medizin
In vielen Branchen ist der Einsatz eines virtuellen Zwillings fester Bestandteil des Arbeitsalltags: Im Maschinenbau minimiert er die Abhängigkeit von kostenintensiven, physischen Tests und verkürzt damit die Time-to-Market. In der Automobilbranche werden Crashtests zu 90 Prozent virtuell durchgeführt und anschließend am fertigen Produkt überprüft. In der Gesundheitsbranche hat der virtuelle Zwilling durch Fortschritte der vergangenen Jahre Aufwind erhalten, denn er ermöglicht ein hohes Maß an Effizienz bei der Entwicklung neuer Behandlungen sowie Präzision bei deren Anwendung. Die 3D-Rekonstruktion des schlagenden Herzens von Patienten, die Simulation einer komplexen Operation oder virtuelle Tests von Medikamenten an ganzen Körpersystemen sind dabei nur einige Beispiele. Sicher ist: Durch den Einsatz eines virtuellen Zwillings lassen sich wertvolle Erkenntnisse gewinnen, um medizinische Innovationen und eine präzise Patientenversorgung maßgeblich voranzubringen.
Digitalisierung in der Medizin
Technologie ist ein Katalysator für Transformation. Sie beeinflusst, wie wir leben und arbeiten und ist die Grundlage vieler gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Veränderungen. In zahlreichen Branchen ist die Digitalisierung bereits in vollem Gange und hat die nötige Transformation mit sich gebracht, damit Unternehmen in der globalen Wirtschaft wettbewerbsfähig bleiben. Mit dem Einsatz dieser Technologien steht das Gesundheitswesen nun vor einem besonders großen Wandel. Viele Menschen nutzen im privaten Umfeld bereits Apps für das Smartphone oder Wearables, die sportliche Aktivitäten aufzeichnen oder den Blutdruck und Blutzuckerspiegel überwachen. Ihre Gesundheitsdaten sind damit digital verfügbar und einfach für sie zugänglich. Für den nächsten, wichtigen Schritt ist die Industrie am Zug – mit der Entwicklung und Nutzung virtueller Patientenzwillinge, zum Beispiel von Zellen, Organen oder sogar dem vollständigen menschlichen Körper.
Doch was genau ist ein virtueller Zwilling? Zunächst sollte zwischen dem digitalen und dem virtuellen Zwilling unterschieden werden. Der digitale Zwilling beschreibt lediglich eine digitalisierte Kopie des Ist-Zustands. Werden Patientendaten beispielsweise mit einem Fragebogen in Papierform erfasst, fließen diese nun digital, etwa über ein Tablet, in die digitale Datensammlung ein. Diese Arbeitsweise ist ein notwendiger Ansatz, um erste Fortschritte bei der Digitalisierung zu erzielen. Der virtuelle Zwilling geht deutlich weiter: Er setzt bei der Entwicklung eines digitalen Abbilds von Produkten, Menschen sowie Prozessen an und überträgt sie in die virtuelle Welt. Diese dient als gemeinsamer Bezugspunkt für alle Beteiligten, ermöglicht die Simulation von Was-wäre-wenn-Szenarien und eröffnet dadurch ein neues Universum an Möglichkeiten und Denkansätzen.
Ein Herz für die Digitalisierung
Eine medizinische Disziplin, die besonders stark vom Einsatz eines virtuellen Zwillings profitieren wird, ist die Kardiologie. Der Herzbericht der Deutschen Herzstiftung zeigt, dass Herz-Kreislauf-Erkrankungen weiterhin die häufigste Todesursache in Deutschland sind. Die größte Herausforderung bei der Behandlung ist die hohe Komplexität des Organs sowie dessen Auswirkungen und Abläufe im gesamten Körper der Patientinnen und Patienten. Ärztinnen und Ärzte können das volle Ausmaß einer Krankheit nicht von außen erkennen; zudem ist der Zugang zum Herzen schwierig. Einen großen Teil ihrer Expertise beziehen sie zudem über Erfahrungen aus der Praxis – direkt an der zu behandelnden Person. Dieser Herausforderung hat sich Dassault Systèmes mit dem im Jahr 2014 ins Leben gerufene Living Heart-Projekt angenommen, das nun schon fast zehn Jahre erfolgreich besteht. Die Initiative vereint mehr als 150 Institutionen aus Forschung, Industrie, Ärzteschaft und Zulassungsbehörden aus 24 Ländern, die mit ihrem kombinierten klinischen Know-how sowie Erkenntnissen aus der Wissenschaft das erste realistische 3D-Modell eines schlagenden Herzens entwickelt haben. Dieser virtuelle Zwilling bildet nicht nur Aufbau, Form und Funktion des Organs ab, sondern bündelt zudem Informationen und Wissen, sodass alle beteiligten Personen jederzeit darauf zugreifen können. Das Modell lässt sich zudem durch patientenbezogene Daten wie MRT-Bilder oder Ergebnisse der Herzdiagnostik personalisieren. Es eröffnet dadurch neue Möglichkeiten auf drei Ebenen, um die Patientenversorgung zu verbessern, die Wissenschaft und Forschung zu unterstützen und Innovationen zu beschleunigen:
- Medizintechnikunternehmen verwenden das virtuelle Herz, um Strukturbauteile wie künstliche Herzklappen zu entwickeln und zu testen. Der Einsatz eines virtuellen Zwillings als Ersatz für Tierversuche oder physische Prototypen ist weniger zeit- und kostenintensiv und erhöht außerdem die Erfolgsaussichten in klinischen Studien. Zudem lässt sich der virtuelle Zwilling personalisiert an die Krankheitsbedingungen von Patientinnen und Patienten anpassen oder auf eine bestimmte Bevölkerungsgruppe, z. B. Kinder, abstimmen.
- Pharmaunternehmen nutzen den virtuellen Zwilling für Versuche auf Zellebene, bevor sie Medikamente zur Behandlung von Herzerkrankungen für die Zulassung bei der entsprechenden Behörde einreichen. Sie untersuchen in virtuellen Tests, wie sich Wirkstoffe auf das gesamte Organ und das umliegende Muskelgewebe auswirken. Dies senkt das Risiko von unvorhergesehenen Ergebnissen bei klinischen Studien – für das bestmögliche Ergebnis für die zu behandelnden Personen.
- Ärzteschaft und Studierende profitieren in der täglichen Arbeit vom virtuellen Zwilling des Herzens. Patientenspezifische Modelle unterstützen medizinisches Personal beispielsweise bei der Planung komplexer Eingriffe und Behandlungen, wie der Korrektur von schweren Herzfehlern bei Neugeborenen. Indem die Operation vorab virtuell erprobt wird, ermitteln sie den bestmöglichen Behandlungsansatz, bevor er an der Patientin oder dem Patienten angewendet wird. Selbiges gilt für die Aus- und Weiterbildung: Hier können angehende Mediziner und Medizinerinnen das Organ zuerst virtuell erkunden und einen operativen Eingriff trainieren.
Einsatzmöglichkeiten für maßgeschneiderte Therapien
Die zunehmende Reife der Technologie sowie die Leistungsfähigkeit und Vielseitigkeit des virtuellen Zwillings haben eine wachsende Zahl neuer Anwendungsfälle in allen medizinischen Disziplinen hervorgebracht. Neben dem Herzen hat Dassault Systèmes weitere Virtual Twin-Modelle für das Gesundheitswesen entwickelt – so wird ein virtueller Zwilling des Gehirns für eine präzisere Epilepsiebehandlung eingesetzt und Modelle von Knie- und Hüftgelenken erleichtern die Anfertigung individueller Prothesen. Darüber hinaus eröffnet der virtuelle Zwilling der Lunge vielversprechende Perspektiven für eine personalisierte Beatmung im Koma.
Diese Fortschritte haben sich auch positiv auf den kritischen Teil des Entwicklungsprozesses, die Durchführung klinischer Studien, ausgewirkt. Sie werden zunehmend „in-silico“ umgesetzt und ermöglichen es, Behandlungsmethoden und zukünftige Medikamente durch virtuelle Tests an virtuellen Patientengruppen zu optimieren. Um diesen Prozess zu rationalisieren, entwickelt Dassault Systèmes in Zusammenarbeit mit der amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA Richtlinien für Pharmaunternehmen zur Durchführung klinischer In-silico-Studien. Sie sollen als Grundlage dienen und so zu effizienteren sowie effektiveren Verfahren beitragen.
3D-Simulation fördert außerdem das Verständnis und die Kommunikation zwischen Patientinnen und Patienten, ihren Angehörigen sowie dem behandelnden Fachpersonal. 3D als universelle Sprache hilft hier, Behandlungspläne besser zu verstehen. Ein Anwendungsbeispiel ist das VORTHEx-Projekt. Mittels Virtual Reality können sich Krebspatientinnen und -patienten vor der tatsächlichen Bestrahlung mit der Situation vertraut machen: Indem sie die Therapie zuerst in der virtuellen Welt erleben, soll ihnen die Angst davor genommen werden.
Über den einzelnen Patienten hinaus lässt sich ein virtueller Zwilling auch auf die Ebene einer vollständigen Gesundheitseinrichtung oder sogar eines medizinischen Wertschöpfungsnetzwerks skalieren. Das Abbild eines Krankenhauses kann für die Planung und Gestaltung genutzt werden, um Prozesse wie die Patientenaufnahme effizienter zu gestalten oder Kreuzkontaminationen durch eine Optimierung von Laufwegen zu minimieren. Dabei lässt sich auch simulieren, welchen Einfluss die Platzierung der Einrichtungsgegenstände im Gebäude oder die Belüftungssysteme haben. Darüber hinaus findet ein virtueller Zwilling auch Anwendung in der Notfallvorsorge, bei Trainings und der Simulation verschiedener Szenarien sowie in prädikativen Analysen und Optimierungen, die die Gesamteffizienz des Krankenhauses verbessern.
Die Zukunft der Medizin
Was bei virtuellen Crashtests in der Automobilindustrie seit Jahren die Regel ist, findet nun auch erfolgreich Anwendung in der Gesundheitsbranche. Virtual Human Modeling, also ein virtueller Zwilling von Organen oder Zellen, oder auch ein virtueller Zwilling von Krankenhäusern und ganzen Wertschöpfungsnetzwerken ermöglichen eine revolutionäre Transformation des Gesundheitswesens. Mit diesem Ziel vor Augen verfolgt Dassault Systèmes die Vision, ein virtuelles Abbild des gesamten menschlichen Körpers zu entwickeln – einen „Virtual Twin of the Human Body“. Neue Erkenntnisse, wie Studien, diagnostische Tests oder Behandlungen, fließen in die Entwicklung des Modells ein, optimieren es und verbessern die Möglichkeiten zur Individualisierung. Damit ist eine Zukunft des Gesundheitswesens in Sicht, bei der jeder Patient und jede Patientin die Chance auf eine Behandlung hat, die auf den eigenen Körper, Stoffwechsel sowie die jeweiligen Gene abgestimmt ist.