EFI warnt vor digitaler Ignoranz im Gesundheitswesen 

Arzt vor digitaler Datenwand
Arzt vor digitaler Datenwand: „Im internationalen Vergleich liegt Deutschland bei der Digitalisierung weit hinter anderen europäischen Ländern zurück“ (Foto: everythingpossible/123rf.com)

Das neue Jahresgutachten der Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) hebt den erheblichen Rückstand Deutschlands bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens hervor.

Die Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) mit Sitz in Berlin leistet seit 2008 wissenschaftliche Politikberatung für die Bundesregierung und legt jährlich ein Gutachten zu Forschung, Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit Deutschlands vor. Das neue Jahresgutachten wurde jetzt an Bundesministerin für Bildung und Forschung Bettina Stark-Watzinger überreicht.

Das Gutachten hebt unter anderem den erheblichen Rückstand Deutschlands bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens hervor: „Im internationalen Vergleich liegt Deutschland bei der Digitalisierung weit hinter anderen europäischen Ländern zurück. Gerade die aktuelle Coronakrise hat schonungslos aufgezeigt, dass das deutsche Gesundheitssystem massive Defizite bei der Digitalisierung aufweist“, so Professorin Dr. Irene Bertschek, Forschungsbereichsleiterin am ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim und Mitglied der Expertenkommission. 

Bertschek verweist auf die Innovations- und Wertschöpfungspotenziale, die mit der Digitalisierung des Gesundheitswesens verbunden sind: „Unsere Analyse zeigt, dass digitale Technologien die Qualität der Gesundheitsversorgung verbessern können. Zudem eröffnet die zunehmende Verfügbarkeit von Gesundheitsdaten in Verbindung mit modernen digitalen Analyseverfahren neue und weitreichende Möglichkeiten für eine stärker personalisierte Diagnostik und Therapie.“

Struktur des Gesundheitssystems hemmt Digitalisierung

Diese hohen Potenziale werden nach dem Urteil der EFI in Deutschland bisher allerdings verschenkt. So stellt die Kommission fest, dass die Struktur des Gesundheitssystems in Deutschland ein zentrales Hemmnis für die Digitalisierung darstellt. „Die Vielzahl von Akteuren mit verteilten Verantwortlichkeiten behindert die Digitalisierung im Gesundheitswesen ungemein“, kritisiert Professor Dr. Uwe Cantner von der Universität Jena und Vorsitzender der Expertenkommission. Zudem erschwere die bisher noch geringe Akzeptanz bei Leistungserbringern die flächendeckende Nutzung digitaler Gesundheitsanwendungen.

„Bei Gesundheitsdaten besteht, mehr als in anderen Bereichen, ein Spannungsverhältnis zwischen IT-Sicherheit und Datenschutz auf der einen und den Potenzialen der Datennutzung auf der anderen Seite,“ so Cantner. „Innovationen im Bereich der personalisierten Medizin und weitreichende Verbesserungen bei der Gesundheitsversorgung werden so ausgebremst,“ gibt Cantner zu bedenken.

Empfehlungen an die Bundesregierung

Die Expertenkommission empfiehlt der Bundesregierung, eine „Digitalisierungsstrategie rasch zu entwickeln und umzusetzen und dabei alle relevanten Akteursgruppen des Gesundheitswesens einzubeziehen“ betont Irene Bertschek. „Um die Interoperabilität zwischen IT-Systemen zu gewährleisten, muss folglich insbesondere der Etablierung interoperabler Standards im Rahmen der Strategie ausreichend Raum gegeben werden.“

Potential durch Gesundheitsdatennutzungsgesetz

Vor dem Hintergrund der bestehenden Hemmnisse bei der Weitergabe und Nutzung von Gesundheitsdaten „befürwortet die Expertenkommission ausdrücklich das im Koalitionsvertrag angekündigte Gesundheitsdatennutzungsgesetz zur besseren wissenschaftlichen Nutzung von Gesundheitsdaten“, so Irene Bertschek. Dabei ist die DSGVO-konforme Nutzung von Gesundheitsdaten für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler so zu gestalten, dass der administrative Aufwand für diese möglichst gering ist. „Um die mit den Daten aus der elektronischen Patientenakte verbundenen Potenziale – wie zum Beispiel passgenaue Diagnosen – ausschöpfen zu können, sollte die Möglichkeit der Freigabe der Daten, insbesondere für Forschungszwecke, möglichst niederschwellig ausgestaltet werden“, fordert Uwe Cantner.

Nutzung von Telemedizin voranbringen

Telemedizin und digitale Gesundheitsanwendungen können die Gesundheitsversorgung verbessern. Damit die Möglichkeiten der Telemedizin stärker genutzt werden, sind nach Ansicht der Expertenkommission ausreichende finanzielle Anreize für die Leistungserbringer erforderlich. So spricht sich Uwe Cantner dafür aus, „telemedizinische Leistungen in der Einführungsphase mit denselben Honoraren wie vergleichbare konventionell erbrachte Leistungen zu vergüten.“ Um die Akzeptanz von digitalen Gesundheitsanwendungen und Telemedizin zu erhöhen, sollte besser über Funktionsweise, Handhabung und Mehrwert dieser Anwendungen informiert werden.

Bessere Rahmenbedingungen schaffen

Zu guter Letzt verweist Irene Bertschek auf das grundsätzliche Problem allgemeiner Digitalisierungshemmnisse, die auch die Digitalisierung des Gesundheitswesens behindern: „Hierzu zählen eine unzureichend ausgebaute digitale Infrastruktur, sowie mangelnde digitale Kompetenzen der Beschäftigten.“ Die Expertenkommission mahnt deshalb einen raschen Ausbau der digitalen Infrastruktur und die Modernisierung der Ausbildung in den Gesundheitsberufen an. Dies kann die digitale Transformation im Gesundheitswesen maßgeblich unterstützen.

Expertenkommission für Forschung und Innovation (EFI) Wesentliche Aufgabe der EFI ist es, die Stärken und Schwächen des deutschen Innovationssystems im internationalen und zeitlichen Vergleich zu analysieren und die Perspektiven des Forschungs- und Innovationsstandorts Deutschland zu bewerten. Auf dieser Basis entwickelt die EFI Vorschläge für die nationale Forschungs- und Innovationspolitik.