Ärzte fordern breite Debatte zur Versorgung

Mediziner und Pflegepersonal im Gespräch
Mediziner und Pflegepersonal im Gespräch: „Blicke auf einige schon lange bestehende Fehlentwicklungen“ (Foto: © Wavebreak Media Ltd/123rf.com)

Junge Ärztinnen und Ärzte im Hartmannbund fordern mit Blick auf „systematische Webfehler“ im deutschen Gesundheitssystem eine breite und strukturierte Debatte in der Gesellschaft. In einem Positionspapier verlangen die Mediziner eine Korrektur bei der Profitorientierung des Gesundheitswesens.

Kritisiert wird insbesondere das System der Fallpauschalen. Es habe zu massivem Personalabbau und Einsparungen an falscher Stelle geführt. Positiv hervorgehoben wird die Nutzung aktuell neu oder verstärkt genutzter digitaler Formate. Die jungen Hartmannbund-Ärzte fordern, die Nutzung dieser digitalen Lösungen konsequent auszuwerten, weiterzuentwickeln und ohne Rückschritte in der Regelversorgung zu erhalten.

Die Bewältigung der Pandemie habe die Blicke auf einige schon lange bestehende Fehlentwicklungen, aber auch auf noch nicht vollends ausgeschöpfte Potenziale des Gesundheitswesens gelenkt, so Theo Uden, Hartmannbund-Vorstandsmitglied und Vertreter der Assistenzärzte des Verbandes. 

„Chance der Beschleunigung sinnvoller Prozesse“

„Die momentane Situation eröffnet die Chance der Neuentdeckung oder Beschleunigung sinnvoller Prozesse und bietet zugleich die Gelegenheit, sich – jenseits der Vorbereitung auf eine erneute Viruspandemie – ganz grundsätzliche Gedanken über die Zukunft unseres Gesundheitssystems zu machen“, ist Uden überzeugt. Dabei gehe es auch darum, so Dr. Dr. Galina Fischer, Sprecherin des Ausschusses der Assistenzärzte im Hartmannbund, Versorgung so zu gestalten, wie die Gesellschaft es für angemessen halte. Diese sei es am Ende auch, die – zum Beispiel im Kontext möglicher Kostensteigerungen – langfristig zu entscheiden habe, wofür Gelder aufgewendet werden sollten und wofür nicht.

Ihre Vorstellungen bringen die Assistenzärzte in einem umfangreichen Thesenpapier in die politische Diskussion ein. mednic.de dokumentiert nachfolgend das Positionspapier in leicht gekürzter Fassung.

Positionspapier 

Auf welche systematischen Webfehler uns die Corona-Krise gestoßen hat

Das Gesundheitswesen befindet sich aktuell in einer herausfordernden Situation. Es hat sich in kurzer Zeit auf die Versorgung vieler Patienten vorbereitet, dafür ungeahnte Kapazitäten mobilisiert und sich gut aufgestellt. Gleichzeitig hat die Pandemie einige schon lange bestehende Fehlentwicklungen des Gesundheitswesens für viele Menschen in Deutschland sichtbar gemacht. 

1. Profitorientierung des Gesundheitswesens korrigieren

Das System der Fallpauschalen hat seinen ursprünglich erdachten Effekt der Kosteneinsparung nicht hinreichend erfüllt und gleichzeitig für ökonomische Fehlanreize im Gesundheitswesen gesorgt. Die Vergütung einzelner Fälle mit einer Pauschale hat zu massivem Personalabbau und Einsparungen an falscher Stelle geführt und bietet zugleich einen Anreiz für die Durchführung „besser finanzierter“ Prozeduren. Eine solche Krise macht Überkapazitäten sowohl in der „Bettenplanung“ als auch z.B. der Versorgung mit Schutzkleidung oder Laborausrüstung notwendig, da der genaue Verlauf im Vorfeld nicht sicher abzuschätzen ist. Paradox ist an dieser Stelle, bei allem Verständnis für die akute Bedrohungslage, dass der „normale Alltag“ in Kliniken und Praxen ein ständiges Arbeiten an den Kapazitätsgrenzen darstellt und beispielsweise für Notfälle zwar fast immer eine Behandlungs- aber regelhaft keine Aufnahmekapazität besteht. So ergibt sich die logische Feststellung, dass Überkapazitäten im Gesundheitswesen grundsätzlich und auch außerhalb von akuten Notlagen angemessen und zu finanzieren sind, auch wenn die Ursache für die Überlastung im Normbetrieb natürlich vielschichtig ist. Konkret wäre denkbar das Finanzierungssystem der freigehaltenen Betten auch nach der Krise zum Beispiel auf einem Niveau von fünf Prozent der absoluten Bettenkapazität weiterzuführen (…)

2. Arbeitsbedingungen für Pflegende, Ärzte und andere Gesundheitsberufe verbessern

Die Vorbereitungen auf die erwartete Corona-Pandemie und die in einigen Gegenden und Einrichtungen auch massiven tatsächlichen Auswirkungen machten die Belastung vieler Gesundheitsberufe deutlicher denn je. Gleichzeitig wird erkennbar, dass viele Gesundheitsberufe in Anbetracht der vielfältigen Belastungen seit Jahren unverändert unterbezahlt sind. Sonderzahlungen werden von den Beteiligten Berufsgruppen als nette Geste aber gleichzeitig auch als Hinhaltetaktik wahrgenommen. Die Krise hat in vielen Gebieten glücklicherweise bisher keine massive Überlastung des Gesundheitspersonals nach sich gezogen. In vielen Punkten ist jedoch deutlich geworden, welche immense Erwartungen Politik und Gesellschaft an das medizinische Personal stellen. Dieser Erwartung muss jedoch entsprechend auch gute Arbeitsbedingungen und insbesondere in den pflegenden Berufen auch zu einer Anpassung des Gehaltsgefüges nach sich ziehen muss. Zu fordern ist in diesem Zusammenhang die Schaffung eines multiprofessionellen Dialogs nach der Corona-Krise zwischen dem Bundesministerium für Gesundheit und allen Gesundheitsberufen z.B. in einer großen Gesundheitskonferenz zur Schaffung besserer Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen insgesamt.

Der öffentliche Gesundheitsdienst war in den vergangenen Jahren stets von eher unattraktiven Arbeitsbedingungen, Personal- und Geldmangel betroffen. Nun erfährt es große Aufmerksamkeit und die Bedeutung wird jedem ersichtlich. Zu Recht haben sich viele bereits dafür stark gemacht und die Politik eine bessere Finanzierung in Aussicht gestellt. Der aktuell neu sichtbare Bedeutungsgewinn sollte in jedem Fall genutzt werden, um einerseits Arbeitsbedingungen und Bezahlung im öffentlichen Gesundheitswesen zu verbessern und andererseits mit groß angelegten Kampagnen diese (nun verstärkt sichtbare) Bedeutung auch als Werbung um Personal nutzen.

3. Neue gesundheitsbezogene Mündigkeit der Patienten schaffen

Die Situation in unseren Notaufnahmen ist derzeit ungewöhnlich: Derzeit stellen sich viele kranke Patienten aufgrund von Angst vor einer möglichen Infektion nicht vor, jedoch bleiben auch viele Patienten fern, die auch vorher nicht in einer Notaufnahme versorgt werden mussten bei z.B. nur leichten Beschwerden. Dies sind offensichtlich Ergebnisse von individuellen Abwägungen, die im ersten Falle bedeuten, dass ein Herzinfarkt möglicherweise zu spät erkannt wird und im zweiten Falle, dass der Patient sich angemessen selbst versorgt hat und auch ohne Vorstellung in einer Notaufnahme wieder gesund geworden ist. (…)

Auch viele der beschlossenen Maßnahmen heben neben den von der Regierung erlassenen Geboten auch eine Eigenverantwortung der Menschen hervor und schaffen damit Raum für eine ganz neue Mündigkeit für gesundheitsbezogene Entscheidungen. (…)

4. Digitalisierung schnell bewerten und sinnvolles in Regelversorgung übernehmen

Viele lange verzögerte Elemente digitaler Medizin finden derzeit im Eiltempo ihren Weg in die Regelversorgung. Videokonsultationen werden in breitem Maße angewendet und können viele Fälle gut und angemessen versorgen. Elemente Digitaler Versorgung werden grundsätzlich im klinischen Alltag nur sehr zögerlich angewendet. Diese Anwendung hat nun stellenweise einen Schub erhalten. Schon jetzt sollte darum begonnen werden, die Nutzung aktuell neu oder verstärkt genutzter digitaler Formate konsequent auszuwerten, weiterentwickeln und ohne Rückschritte in der Regelversorgung erhalten.

5. Material und Medikamente auch in Deutschland vorhalten und produzieren

In den vergangenen Wochen zeigten sich große Engpässe in der Versorgung mit Schutzausrüstung und Masken. Auch in der außerpandemischen Versorgung bestehen immer wieder zeitweise mangelnde Versorgungssituationen mit Medikamenten. Darum ist es an der Zeit, dass eine vom Gesundheitsministerium angestoßene und von Experten bewertete Sammlung von für die grundlegende Versorgung notwendigen Medikamente und Materialien erstellt wird. Die Produktion dieser Produkte sollte konsequent auch in Deutschland oder in europäischen Kooperationen gefördert werden. Dabei geht es nicht um einen verstärkten Nationalismus oder eine Abgrenzung, sondern um eine Risikostreuung (…)

6. Rolle der Zuwendung neu definieren

Die Zuwendung im Gesundheitswesen erlebt derzeit eine Krise (z.B. in der kontaktreduzierten Versorgung alter Menschen) und findet gleichzeitig und erzwungenermaßen neue Manifestationsformen durch z.B. eine digitale Versorgung von Patienten. Gleichzeitig besteht aufgrund des aktuellen Finanzierungssystems schon lange ein Anreiz eher für eine operativ- und Geräte-orientierte Medizin als für eine sprechende und zuwendungsorientierte Medizin.

Wir sollten es uns leisten, die Zuwendung als neuen Maßstab guter Medizin zu definieren und neben Heilungserfolg als klare Währung zukünftiger Finanzierungssysteme zu etablieren. Dabei muss eine relevante Rolle der Zuwendung auch in neuen (z.B. digitalen) Behandlungsformen realisiert werden. In solchen Fällen ist eine klare Differenzierung notwendig: Ins unendliche und ohne großes menschliches Zutun skalierbare digitale Gesundheitsprodukte müssen eine andere Rolle in dieser Bewertung spielen als eine direkte ärztliche oder pflegerische Zuwendung auf digitalem Wege. (…)

Neben der Vorbereitung auf eine erneute ähnliche Krisensituation müssen wir nun auch die Webfehler des Gesundheitssystems angehen, die durch die aktuelle Krise sichtbarer geworden sind.