Teil-Lockdown: Covid-19-Simulator zeigt Infektionsentwicklung

Professor Thorsten Lehr erläutert die Grafiken aus den Berechnungen des Covid-19-Simulators. (Foto: © Pasquale D'Angiolillo)

Durch den Teil-Lockdown lässt sich die starke Ausbreitung des Coronavirus nur mit Verzögerung ausbremsen. Wie die Infektionsentwicklung aussehen könnte, haben Forscher der Universität des Saarlandes jetzt mit einem Covid-19-Simulator in verschiedenen Szenarien durchgerechnet. 

Die Berechnungen zeigen, dass nur mit einer drastisch gesenkten Reproduktionszahl eine Überlastung der Krankenhäuser und Intensivstationen noch zu verhindern ist. Der Covid-Simulator kann jetzt auch für einzelne Stadt- und Landkreise im ganzen Bundesgebiet die Infektionszahlen vorhersagen.

„Wir wissen aus der Entwicklung im Frühjahr, dass sich erhöhte Infektionszahlen erst mit mehrwöchiger Verzögerung auf die Belegung der Intensivstationen auswirken. Daher sind auch derzeit trotz anvisiertem Teil-Lockdown die Spitzenbelegungen erst zwischen Mitte November und Anfang Dezember zu erwarten“, sagt Thorsten Lehr, Professor für Klinische Pharmazie der Universität des Saarlandes.

„Mit unseren Simulationen mussten wir leider feststellen, dass unabhängig davon, wie stark man ab jetzt die weitere Ausbreitung des Coronavirus stoppen kann, im Dezember mindestens doppelt so viele Intensivbetten belegt sein werden wie zu Spitzenzeiten der ersten Welle“, so Lehr weiter. Gemeinsam mit seinem Team und Forscherkollegen hat er das mathematische Modell für den Online-Simulator entwickelt, das auf der Basis umfangreicher Daten präzise Ergebnisse für das gesamte Bundesgebiet liefert.

Die Zeit ist knapp

Den Berechnungen des Covid-19-Simulators zufolge liegt die bundesweite mittlere Reproduktionszahl derzeit die bei 1,43. Derzeit übertragen also zehn Infizierte das Coronavirus auf etwas mehr als vierzehn Personen. „Wenn es uns gelingen würde, den R-Wert wieder auf das gleiche Niveau wie bei dem ersten Lockdown im Frühjahr, also auf etwa 0,6 zu drücken, würde ein Monat nicht ausreichen, um das Infektionsgeschehen in den Griff zu bekommen. Es gäbe auch dann noch bei über der Hälfte der Stadt- und Landkreise mehr als 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner im Schnitt der letzten sieben Tage gerechnet“, warnt Lehr. Selbst bei dem sehr niedrigen und derzeit äußerst unrealistischen R-Wert von 0,3 lägen nach einem Monat noch knapp 20 Prozent der Stadt- und Landkreise über dem 7-Tages-Inzidenzwert von 50.

Im Rückblick konnten die Forscher genau sehen, wie sich die einschneidenden politischen Interventionen im Frühjahr, also Schulschließungen und Ausgehbeschränkungen, auf die Infektionszahlen auswirkten. Anders als damals hat sich das Coronavirus nun allerdings flächendeckend in der Bevölkerung ausgebreitet. Zudem fallen die aktuell beschlossenen Maßnahmen weniger drastisch aus als im März. Deshalb können die Wissenschaftler nicht vorhersagen, wie gut sie das Infektionsgeschehen eindämmen können. 

„Wir haben daher verschiedene Reproduktionsraten durchgerechnet, um zu zeigen, wie sich die Spannweite von nur geringem Rückgang, also einem Wert von 1,1, auf eine extreme Drosselung auf 0,3, auf die Krankenhausbelegung auswirken würde“, so der Wissenschaftler. Daraus ergeben sich die farbigen Kurven in den Schaubildern. Sie zeigen die durchschnittlich zu erwartenden Infektionsfälle und die Zahl der intensivmedizinisch zu behandelnden Covid-19 Patienten.

Extreme Belastung des Gesundheitswesens

„Diese Simulationen machen sichtbar, dass die Wirkung der aktuellen Maßnahmen wahrscheinlich stärker sein müsste als bei dem ersten Lockdown im März“, warnt Professor Lehr. Nur so könne es gelingen, dass das Infektionsgeschehen wieder kontrollierbar werde. unterstreicht Professor Lehr. Nach den niedrigen Covid-19-Zahlen im Sommer hatte sich die Infektionsdynamik Mitte September deutlich geändert, so dass es Anfang Oktober zu dem stark exponentiellen Anstieg der täglichen Fälle kam. Um so die wesentliche Nachverfolgung der Fälle durch die Gesundheitsämter zu gewährleisten, ist es seiner Einschätzung nach sinnvoll, die Zahlen auf täglich unter 2000 Neuinfizierte zu drücken. „Wenn es uns nicht gelingt, die Reproduktionszahl in den kommenden Wochen deutlich zu senken, wird dies unweigerlich zu einer extremen Belastung des Gesundheitswesens im Dezember führen. Möglicherweise wird es daher Ende November noch zu früh sein, um wieder zu einem ‚normalen‘ Alltag zurückzukehren“, so Lehr.

Simulator verfeinert

Um die weitere Entwicklung mit präzisen Prognosen zu begleiten, haben die Saarbrücker Wissenschaftler die frei zugängliche Online-Plattform des Covid-Simulators weiter verfeinert. Ab sofort lassen sich auch für alle Stadt- und Landkreise im Bundesgebiet die Infektionszahlen berechnen. „Wir erfassen dafür nicht nur die Zahl der Coronavirus-Patienten, ihre stationäre Behandlung und die Todesfälle, sondern analysieren auch die vorhandenen Kapazitäten in den Kliniken. So können wir sehr früh auch für einzelne Regionen vorhersagen, wie viele Krankenhausbetten, intensivmedizinische Plätze oder Beatmungsplätze für die jeweiligen Infektionszahlen benötigt werden“, sagt Lehr.

Breite Datenbasis

Das Besondere am Covid-19-Simulator ist die breite Datenbasis, die für die aufwändigen Berechnungen verwendet wird: Neben den Erhebungen des Robert-Koch-Instituts sowie der Kreis- und Landesgesundheitsämter werden beispielsweise die recherchierten Corona-Fallzahlen der „Berliner Morgenpost“ ergänzt. Darüber hinaus werden klinische Daten von über 8000 stationär behandelten Covid-19-Patienten aus über 100 deutschen Kliniken und verschiedene Angaben der Gesundheitsministerien ausgewertet.