mednic-Gastautor Meik Baumeister sieht das Elektrokardiogramm (EKG) als die gängigste und populärste Herzvorsorgemethode zwiespältig. Aus seiner Sicht kann die geringe diagnostische Aussagekraft durch den Einsatz künstlicher Intelligenz kostengünstig und risikolos für PatientInnen erheblich optimiert werden.
Gastbeitrag von Meik Baumeister
Ganze 40 Prozent aller Todesfälle in Deutschland basieren auf Herz-Kreislauf-Leiden. Damit sind diese Erkrankungen nach wie vor Todesursache Nummer 1. Das Tückische dabei: Herzkrankheiten bleiben in vielen Fällen sehr lange unerkannt, da sie sukzessive und oftmals ohne jegliche Beschwerden voranschreiten. Deshalb ist in vielen Fällen der Herzinfarkt das erste und leider extrem bedrohliche Symptom. Und dass, obwohl Herz-Kreislauf-Erkrankungen insbesondere bei jungen Menschen meist sehr gut zu behandelbar sind. Vorausgesetzt, sie werden rechtzeitig erkannt. Und genau hier liegt die Problematik der konventionellen Herzvorsorge.
Traditionelle Herzvorsorge im Zwiespalt
Die gängigste und populärste Herzvorsorgemethode ist nach wie vor das Elektrokardiogramm (EKG). Allerdings ist dieses Verfahren bereits mehr als hundert Jahre alt und wurde in dieser Zeitspanne kaum überarbeitet oder modernisiert. Dabei verfügt das EGK lediglich über eine geringe diagnostische Aussagekraft bezüglich möglicher Herz-Leiden, sodass viele Erkrankungen schlicht unentdeckt bleiben. Alternative Methoden wie die Herzkatheteruntersuchung oder ein Herz-MRT sind zwar wesentlich präziser, allerdings im Einsatz erheblich teurer und aufwändiger. Darüber hinaus ist beispielsweise die Herzkatheteruntersuchung für PatientInnen deutlich belastender und zudem mit gewissen Risiken verbunden, da es sich hier ein invasives Verfahren handelt, für das das eine Vollnarkose benötigt wird.
Das von mir mitgegründete Healthcare Unternehmen Cardisio hat es sich zur Aufgabe gemacht, genau dieses Dilemma zu lösen: Das Team entwickelte eine neue Screening-Methode, die in der Anwendung ähnlich kostengünstig, unkompliziert und risikolos wie ein EKG ist, dabei jedoch um ein Vielfaches präziser und aussagekräftiger – aufgrund des Einsatzes von künstlicher Intelligenz.
Eine Dimension mehr
Die Methode namens „Cardisiographie“ baut auf dem Prinzip der Vektorkardiographie auf: Sie erfasst den zeitlichen Verlauf der elektrischen Herzaktivität und bildet ihn in Form eines Vektorkardiogramms ab. In seiner Funktionsweise ähnelt das Verfahren dem Elektrokardiogramm, allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Im Gegensatz zum traditionellen EKG, das lediglich zwei Dimensionen abbildet, ermöglicht die Vektorkardiographie eine Datenaufnahme im dreidimensionalen Raum. Sie erfasst also nicht nur den zeitlichen, sondern auch den räumlichen Spannungsverlauf, was durch eine zusätzliche, am Rücken angebrachte Elektrode gelingt. So können die folgenden drei Vektorschleifen ermittelt und anschließend anhand des Vektorkardiogramms visualisiert werden:
– Die P-Schleife, die die Erregungsausbreitung im Vorhof angibt.
– Die QRS-Schleife, die die Erregungsausbreitung den Herzhöhlen (Ventrikel) abbildet.
– Die T-Schleife, welche sich aus der Rückbildung dieser Erregung ergibt.
Das Problem: Zwar ermöglicht die dreidimensionale Methode eine erheblich präzisere Analyse als das EKG, allerdings kam sie bislang nur selten zum Einsatz, da die Interpretation eines Vektorkardiogramms sehr komplex und ohne spezielle Fachkenntnisse nicht möglich ist. Eben diese Schwachstelle wurde nun durch die Weiterentwicklung des Verfahrens, der Cardisiographie, behoben.
Schnelle Analyse und Interpretierbarkeit
Das neue Verfahren analysiert zunächst mit Hilfe künstlicher Intelligenz die aufgezeichneten Herzdaten. Anschließend verarbeitet der speziell entwickelte, cloud-basierte Algorithmus die ermittelten Werte. Die Ergebnisse können innerhalb weniger Minuten aufbereitet und der Zustand des Herzens in einem simplen PDF abgebildet werden. Die Besonderheit: Im Gegensatz zum Vektorkardiogramm sind die visualisierten Herzdaten leicht nachvollzieh- und interpretierbar – und das nicht nur für ExpertInnen. Darüber hinaus kann sogar eine klinische Empfehlung abgegeben werden.
Ein Algorithmus auf der Schulbank
Um dies zu ermöglichen, trainierten die EntwicklerInnen der Cardisiographie den Algorithmus unter anderem anhand von Studienergebnissen, die auf Röntgenuntersuchungen der Herzkranzgefäße, (Koronarangiographie) basieren. Auch wenn die Voraussagen der KI bereits heute sehr genau sind, sind die Experten von Cardisio darauf bedacht, Performance und Präzision des Algorithmus immer weiter zu verbessern. Dabei setzen sie auf sogenanntes „Supervised Machine Learning“. Durch dieses „überwachte Lernen“ wird die KI sukzessive darauf trainiert, Datensätze richtig zu interpretieren und zu klassifizieren.
Im konkreten Fall der Cardisiographie bedeutet dies, immer genauere Voraussagen über den Zustand des Herzens treffen zu können. Dass die Analysen der Cardisiographie auch jetzt schon sehr genau sind, konnte durch klinische Studien belegt werden: So weist die Cardisiographie in einer Studie eine Sensitivität von 97 Prozent bei männlichen Patienten und 90 Prozent bei weiblichen Patientinnen mit koronarer Herzkrankheit auf. (Die Sensitivität eines Tests belegt, bei wie viel Prozent der tatsächlich Erkrankten die Krankheit auch erkannt wird). Zum Vergleich: Ein Belastungs-EKG verfügt lediglich über eine Sensitivität von 50 Prozent, wobei PatientInnen einem wesentlich höheren Risiko unterliegen.
Neue Perspektiven mit KI
Künstliche Intelligenz eröffnet der Medizin ganz neue Möglichkeiten, indem sie die Lösung für viele althergebrachte Probleme liefert. So ist es auch bei der Cardisiographie der Fall, die sowohl ischämische also auch strukturelle Herzkrankheiten dank KI schnell und genau identifiziert und damit eine diagnostische Lücke des EKG schießt. So wird eine gezielte Behandlung ermöglicht, bevor Lebensgefahr besteht. Das Prinzip der Cardisiographie deckt sich somit mit der neuen Zielsetzung der modernen Medizin, den Fokus vermehrt auf die Prävention von Krankheiten zu setzen.