Hybride Medizin: Was Deutschland von Schweden lernen muss 

Mediziner vor schwedischer Flagge
Schwedische Mediziner: Bereits 1997 wurden erste digitale Projekte auf lokaler Ebene realisiert. (Foto: svershinsky/123rf.com)

Seit 1997 konzeptioniert und integriert das schwedische Gesundheitssystem digitale Lösungen, um die drohende Versorgungslücke zu schließen. Wie kann Deutschland von diesem Konzept lernen?

Gastbeitrag von Susanne Kreimer, Doktor.de

Die ambulante Primärversorgung in Deutschland wird den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten nicht mehr gerecht. Das spiegelt auch der kürzlich erschienene MLP Gesundheitsreport wider: Gut ein Drittel der Befragten bemängeln die medizinische Versorgung in Deutschland und sehen eine Verschlechterung gegenüber 2019, gerade gesetzlich Versicherte sind besonders betroffen. Gründe sind lange Wartezeiten beim Arzt, fehlende Zeit pro PatientIn und die Mühen, einen Termin zu bekommen. Die Folge des Ärztemangels und die daraus resultierende Unterversorgung ist also längst sicht- und spürbar und das nicht nur für die PatientInnen.

mednic-Gastautorin Susanne Kreimer
mednic-Gastautorin Susanne Kreimer ist Ärztin, Betriebswirtin und Unternehmerin. Sie hat Medizin und Betriebswirtschaftslehre in Helsinki, Singapur, Kapstadt, Sydney, Berlin und Vallendar studiert. Nach zwei Jahren in der Urologie an der Charité Berlin wechselte Sie in die Health Tech Branche, gründete ihr eigenes Unternehmen im Bereich Scientific Self-Care und ist jetzt Teil des deutschen Management Teams von Doktor.de. (Foto: Doktor.de)

Die Situation sorgt auch bei ÄrztInnen für Frust. Immer weniger MedizinerInnen müssen zukünftig einen immer größer werdenden Patientenstamm versorgen. In einer 2020 erschienenen Studie des Beratungsunternehmens McKinsey wird das Ausmaß deutlich: Niedergelassene ÄrztInnen arbeiten schon jetzt im Schnitt 53 Stunden pro Woche, um die BürgerInnen zu versorgen, die knapp 10-mal pro Jahr den Arzt aufsuchen. Besonders dramatisch ist die Lage im hausärztlichen Bereich. Die Robert-Bosch-Stiftung prognostiziert in der Studie „Gesundheitszentren für Deutschland – So gelingt ein Neuanfang“: Jede(r) siebte Hausarzt oder Hausärztin geht in absehbarer Zeit in den Ruhestand, womit zukünftig 11.000 Hausarztstellen unbesetzt und 20 Prozent der Landkreise hausärztlich unterversorgt sein werden. Bereits jetzt geben 54 Prozent der HausärztInnen an, aufgrund des Arztmangels mehr PatientInnen zu versorgen als früher.

Diese zusätzliche Arbeitslast ist sehr ungleich verteilt: ÄrztInnen in Regionen mit unter 100.000 Einwohner:innen sind stärker betroffen (71%) als ÄrztInnen in Regionen mit über 750.000 Einwohnern (34 %). Parallel dazu altert die Bevölkerung und die Zahl der chronischen Erkrankungen steigt. Die Konsequenz für ÄrztInnen: weiter steigende Arbeitsbelastung, Unzufriedenheit und die Gefahr, aufgrund von Überlastung psychisch und physisch zu erkranken. 

Die Zukunft der hausärztlichen Versorgung ist hybrid

Eine Lösung liegt darin, mehr digitale Anlaufstellen im Gesundheitssystem zu schaffen, um die Versorgung effizienter zu gestalten und PatientInnen damit einen ortsunabhängigen Zugang zur medizinischen Versorgung zu sichern. Davon profitieren nicht nur PatientInnen: Mithilfe der Telemedizin können ÄrztInnen in strukturschwachen Gebieten von ÄrztInnen in strukturstarken Gebieten unterstützt und somit entlastet werden. Die medizinische Versorgung der BürgerInnen ist eine ärztliche Kollektiv-Pflicht und kann in Zukunft nicht mehr nur auf die MedizinerInnen am eigentlichen Standort der PatientInnen beschränkt sein.

In Schweden ein Konzept mit Tradition 

Schweden erkannte das Problem der Unterversorgung in strukturschwachen Regionen bereits vor mehr als 20 Jahren und arbeitet seitdem fortwährend an einem hybriden Gesundheitskonzept. Bereits 1997 wurden erste digitale Projekte auf lokaler Ebene realisiert. Mit dem Positionspapier „Digitale Gesundheit“ brachte man 2006 eine nationale Strategie auf den Weg, inklusive einer flächendeckenden elektronischen Patientenakte (ePA). Während zu Beginn des Prozesses der Aufbau digitaler Gesundheitsdienste und  

-anwendungen im Fokus stand, konzentriert sich die Digital-Health-Agentur heute mit „Vision for eHealth 2025“ auf die Interoperabilität und Integration der konkurrierenden regionalen IT-Systeme. Mit dem Ziel: ein Patient, eine Akte und dem Rang als Weltspitze im Bereich eHealth. Ein Thema, das in Deutschland noch in den Kinderschuhen steckt.

Etwa 1.200 Gesundheitszentren bilden in Schweden das Fundament des Gesundheitssystems. Allerdings sind digitale Gesundheitsportale und Apps mit ePA-Anbindung – wie das landesweite Gesundheitsportal 1177 oder die Portale privater Anbieter wie Doktor.se, Kry und Min Doktor – in der Regel eine der ersten digitalen Anlaufstellen für die PatientInnen. Videosprechstunden sind bequem mithilfe der elektronischen BankID buchbar. Nach einer Ersteinschätzung durch medizinisches Fachpersonal per Telefon oder Chat folgt eine digitale Visite mit (Allgemein-) MedizinerInnen. Diese können rezeptpflichtige Medikamente per E-Rezept verschreiben, ambulante Untersuchungen anordnen und Überweisungen veranlassen. Das hybride Konzept – PatientInnen werden zunächst digital behandelt und nur bei Bedarf auch physisch einbestellt – soll auch für Menschen in abgelegenen Gebieten oder mit eingeschränkter Mobilität eine qualitativ hochwertige medizinische Beratung und Versorgung sicherstellen. Die Gesamtanzahl der medizinischen Konsultationen, welche telemedizinisch durchgeführt werden, stieg in Schweden von 6,5 Prozent im Jahr 2019 auf 11 Prozent im Jahr 2020. 

Erprobtes Modell erleichtert den medizinischen Alltag

ÄrztInnen bietet das hybride Konzept die Möglichkeit, ihre Praxisabläufe – Zeitmanagement, Sprechstundenplanung, Abrechnungsmanagement – zu optimieren, Personal zu entlasten, PatientInnen mit Bagatellerkrankungen effizienter zu betreuen und mehr Zeit für zum Beispiel chronisch kranke PatientInnen zu haben. Durch weniger administrative Aufgaben beim medizinischen Personal bleibt mehr Zeit für den Patienten oder die Patientin und Praxen mit hohem Anteil von chronisch kranken PatientInnen gewinnen ggf. „Verdünner-PatientInnen“. Das zusätzliche E-Health-Angebot, das PatientInnen eine orts- und zeitunabhängige Behandlungsoption bietet, steigert außerdem die Attraktivität der Praxis. Die PatientInnen erhalten eine bedürfnisorientierte Versorgung bei gleichbleibend hoher Qualität. Sie ist dann genauso unkompliziert wie das Bestellen von Büchern über Amazon.