Deutschland ist europäischer DiGA-Vorreiter

EIT Health Roundtable im Herbst 2021 in Berlin
EIT Health Roundtable im Herbst 2021 in Berlin: (vorne links nach rechts) EIT Health Germany-Geschäftsführerin Dr. Katharina Ladewig, Dr. Anke Diehl; (hinten links nach rechts): Nora Müller, Dr. Anne Geier, Prof. Dr. Freimut Schliess, Christian Weigand, Michael Rosenstock, Matthias Prütz. (Foto: EIT Health Germany)

In Deutschland können Patienten seit 2020 digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) auf Rezept beziehen. Mit rund 50.000 DiGA-Verordnungen im ersten Jahr ist Deutschland dabei Vorreiter in Europa.

Digitale Gesundheitsangebote kommen hierzulande gut an. Doch der Zulassungsprozess einer solchen „App auf Rezept“ ist komplex und aufwendig. Die Netzwerk-Initiative des European Institute of Innovation & Technology EIT Health unterstützt deshalb kleine und mittelständische Unternehmen sowie Start-ups dabei, neuartige Healthcare-Lösungen wie DiGA zur Marktreife zu bringen.

Das im Dezember 2019 in Kraft getretene Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) macht Deutschland zum ersten europäischen Land mit einem rechtlichen Rahmen für die Zulassung und Kostenerstattung von DiGA. Ärzte und Psychotherapeuten können seither eine Behandlung mit einer im DiGA-Verzeichnis des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gelisteten DiGA verordnen. 

Über Chancen und Schwierigkeiten der Implementierung eines europäischen DiGA-Zulassungssystems diskutierten im Herbst vergangenen Jahres Experten beim EIT Health Germany Roundtable in Berlin. Erkenntnisse aus dieser Veranstaltung sind jetzt in einem Report veröffentlicht. Der vollständige Report kann hier kostenfrei als PDF geladen werden: https://eit-health.de/wp-content/uploads/2022/01/EITHealthGermany_Roundtable_WhitePaper.pdf

Chancen und Herausforderungen

50.000 DiGA-Verordnungen konnten bereits innerhalb des ersten Jahres nach Inkrafttreten des DVGs in Deutschland registriert werden. Um die Verordnungsfähigkeit von neuen DiGA zu beschleunigen, wird auf das sogenannte Fast-Track-Verfahren gesetzt. Es ermöglicht eine vorläufige Listung von DiGA, wodurch eine Verordnung erlaubt wird, obwohl der Nachweis eines positiven Versorgungseffekts durch eine klinische Studie noch aussteht. Innerhalb von 12 Monaten müssen die Hersteller diesen Nachweis dann erbringen. 

Hohe Ablehn-Quote

Doch die Roundtable-Teilnehmer sehen Entwicklungsbedarf im deutschen System. Von den bis zum 16. September 2021 beim BfArM eingereichten 91 Anträgen wurden 70 abgelehnt oder durch die Hersteller zurückgezogen. Die Gründe lagen vor allem in den hohen Anforderungen des BfArM an die Zulassungsanträge sowie in den zum Teil sehr kurzfristigen Antragsnachbearbeitungen, deren Zeitvorgaben von Herstellern kaum eingehalten werden konnten. Zudem verursachten die Nachbearbeitungen den Herstellern weitere unvorhergesehene Kosten. 

Die Experten auf dem Roundtable stellten zudem fest, dass viele DiGA-Hersteller auch den Aufwand während des Zulassungsverfahrens unterschätzten: So bemängelten diese etwa das Fehlen einer detaillierten Beschreibung der Prüfkriterien durch das BfArM. Da gerade für mittelständische Unternehmen und Start-ups die Zulassung über das Fast-Track-Verfahren somit eine große Herausforderung darstelle, wünschten sich die Roundtable-Teilnehmer mehr Transparenz seitens des BfArM zu den methodischen Fragestellungen sowie den Anforderungskriterien. 

Noch immer eine Unbekannte

Eine weitere Herausforderung, die in der Diskussionsrunde festgehalten wurde, war der geringe Bekanntheitsgrad der verordnungsfähigen DiGA unter Ärzten und Psychotherapeuten. Zudem führte Skepsis gegenüber dem Nutzen der Anwendungen teilweise zur Zurückhaltung bei den Verordnungen. Die Hersteller müssen also zusätzlich eine bessere Vertriebsstruktur schaffen, die Ärzten vom klinischen Nutzen von DiGA überzeugen kann. Hierbei bietet sich EIT Health als unterstützender Partner an.

Fast-Track-Verfahren als Modell für Europa?

Nicht nur deutschlandweit, sondern auch europaweit sind große Erwartungen an DiGA geknüpft. Denn damit könnten Versorgungslücken, beispielsweise bei der Behandlung chronischer Erkrankungen, potenziell geschlossen werden. Ein weiteres Fokusthema des EIT Health Roundtables war deshalb herauszufinden, inwiefern das deutsche Zulassungsmodell hilfreich für ein europaweites Zulassungsverfahren von DiGA sein könnte. Die derzeit im deutschen Zulassungsverfahren angelegte Möglichkeit wäre, dass die Hersteller den Nachweis über die Übertragbarkeit ihrer Studienergebnisse auf den Versorgungskontext in weiteren Ländern führen müssen. Hierbei würde jedes Land individuell nach definierten Kriterien über die Zulassung einer DiGA entscheiden. Daneben wäre allerdings auch die Zulassung über die Durchführung einer einzigen randomisierten europaweiten klinischen Studie möglich. Hierfür wäre die Einrichtung einer Prüfinstanz erforderlich, die die Anwendungen adäquat bewertet.

Die Expert:innen kamen zu dem Ergebnis, dass auf dem Weg zu einer europäischen Lösung neben einer Einigung auf valide Nachweisverfahren auch an länderübergreifenden technologischen und datenschutzrechtlichen Standards gearbeitet werden muss. Hierbei seien die in Deutschland gewonnenen Erkenntnisse hilfreich. Dennoch bleibe abzuwarten, inwieweit sich ein mögliches europäisches Modell von dem deutschen Verfahren unterscheidet.

Das European Institute of Innovation & Technology (EIT) ist eine unabhängige Einrichtung der Europäischen Union, die 2008 gegründet wurde, um Innovation und Unternehmertum in ganz Europa zu fördern. Seit 2014 ist die Netzwerk-Initiative auch im Bereich Gesundheit in Europa aktiv. EIT Health arbeitet zurzeit mit rund 150 Mitgliedern aus 14 Ländern in einer „Public-Private-Partnership“ an den Lösungen der großen Herausforderung im Gesundheitswesen. EIT Health Germany ist eines von insgesamt acht EIT Health-Zentren in Europa und betreut in Deutschland und der Schweiz zurzeit 26 Mitglieder aus Industrie, Forschung und Lehre, darunter Roche, Abbvie, das Karlsruher Institut für Technologie (KIT), die Universität Heidelberg, aber auch verschiedene Start-ups und KMUs.