Arzt-Netzwerk gegen Überversorgung

Die Überversorgung von Patienten ist nicht hilfreich und kostet viel Geld. Dem entgegenwirken will das Kooperationsnetzwerk PRO PRICARE (Preventing Overdiagnosis in Primary Care) unter der Leitung des Allgemeinmedizinischen Instituts des Universitätsklinikums Erlangen.

Ein Körbchen gefüllt mit zahlreichen Medikamenten, das die betagte Patientin gut hütet. Plötzlich kommen Rückenschmerzen dazu. Ob jetzt noch eine weitere Arznei verschrieben wird? Eine Alltagssituation, die viele Betroffene kennen. In ihr spiegelt sich das weit verbreitete Phänomen der Fehl- und Überversorgung. Um einer solchen Überversorgung entgegenzuwirken, schließen sich sieben Institute der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU), vier fränkische Praxisnetzwerke mit rund 200 haus- und fachärztlichen Praxen, die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns sowie Vertreter von Krankenkassen zusammen. Der Aufbau des Kooperationsnetzwerkes „PRO PRICARE“ sowie drei Forschungsprojekte werden vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit 2,1 Millionen Euro unterstützt.

„Die Überversorgung im ambulanten deutschen Gesundheitswesen wird ein immer wichtigeres Thema“, sagt Prof. Dr. Thomas Kühlein, Direktor des Allgemeinmedizinischen Instituts und Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeinmedizin der FAU. Die zunehmenden technischen Möglichkeiten und auch die unkoordinierte Aktivität vieler Fachärzte führen gerade bei alten Menschen schnell zu einem Zuviel an medizinischen Maßnahmen. „Gerade angesichts des fortschreitenden Alters unserer Patienten müssen wir lernen, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Das Kriterium für diese Unterscheidung muss für jede einzelne dieser Maßnahmen sein, ob sie dem Patienten in seiner aktuellen Situation und bei der Erreichung seiner Ziele hilft“, sagt Kühlein.

Zu viele Medikamente

Oft stehen immer noch medikamentöse Therapieverfahren wie etwa die Gabe von Antibiotika an erster Stelle, auch wenn diese nicht nötig oder zielführend sind. Aufgrund des technischen Fortschritts kommen immer häufiger bildgebende Verfahren zum Einsatz. Das Gespräch und die persönlichen Sorgen und Ziele der Patienten drohen darüber in Vergessenheit zu geraten. „Ein zynisch klingender Satz in der Medizin lautet: ,Ein gesunder Patient ist nur schlecht untersucht´. Dieser Satz enthält leider viel Wahrheit“, sagt Kühlein.

Den Menschen ganzheitlich betrachten

„Der Hausarzt ist der wichtigste Versorger und ist die erste Anlaufstelle bei Gesundheitsfragen“, sagt Dr. Susann Schaffer, Forschungskoordinatorin am Lehrstuhl für Allgemeinmedizin der FAU und Leiterin des Netzwerks PRO PRICARE. So soll in einem der drei Projekte des Netzwerks ein für Hausärzte leicht handhabbares Klassifikationssystem entwickelt werden, das anstelle der Krankheiten den Menschen in seinem alltäglichen Leben in den Mittelpunkt stellt. Im Fokus stehen dabei Ältere und Hochbetagte.

Klassifikationssystem geplant

Mit Hilfe dieser Klassifikation soll es möglich sein, den Grad der Alltagsbewältigung dieser Patienten zu beschreiben: Wie aktiv ist der Patient noch oder inwiefern kann er sich noch selbst versorgen – kurz: In welchem Umfang kann er am Leben teilhaben? Die sich aus dieser Erfassung ergebende Aufgabe ist dann, wie man diesen Patienten helfen kann, ihr Leben besser zu bewältigen. „So lange der Fokus medizinischer Versorgung vor allem auf Krankheiten gerichtet ist, wird das Problem der Überversorgung weiter wachsen. Unsere Annahme ist, dass eine personenzentrierte Versorgung zu weniger Medizin führen wird“, erläutert Thomas Kühlein.

Auf subjektive Ängste eingehen

In einem zweiten Projekt steht die Arzt-Patienten-Kommunikation im Mittelpunkt. Suchen Patienten ihren Arzt auf, haben sie meist bereits eine Vorstellung, was sie haben könnten und brauchen. Verbunden sind damit oft große Ängste und Sorgen vor einer „schlimmen Krankheit“, die sich andeuten könnte. „Diese subjektiven Krankheitsvorstellungen wollen Patienten gerne in der Konsultation mit ihrem Arzt besprechen. Wir wollen nun Ärzte durch ein Training in der Weiterentwicklung ihrer Konsultationskompetenzen unterstützen“, sagt Thomas Kühlein.

So zeigte eine belgische Studie in Hausarztpraxen, dass aufgrund einer gezielten Verbesserung der Konsultationskompetenzen weniger Medikamente verschrieben wurden. Koordinatorin Susann Schaffer ergänzt: „Wir möchten die Hausärzte schulen und bestärken, die subjektiven Krankheitsvorstellungen der Patienten zu erfragen. Eine verbesserte Kommunikation kann dazu beitragen, die meist kurze Konsultationszeit optimal zu nutzen.“

Beispiel Schilddrüsenerkrankungen

Oft beginnen medizinische Versorgungsprozesse mit kleinen, eigentlich unnötigen Maßnahmen, aus denen dann wie bei einer Kaskade weitere Maßnahmen folgen, die nur noch schwer zu stoppen sind. Ein Beispiel ist die verbreitete Ultraschalluntersuchung der Schilddrüse. Mit zunehmendem Alter werden dabei immer mehr Schilddrüsenknoten gefunden, die dann nach jahrelangen Kontrollen irgendwann doch operativ entfernt werden. Dabei findet sich manchmal auch Krebs. Ähnlich wie beim Prostatakrebs, sind die meisten dieser Krebsformen jedoch so geartet, dass der Patient auch ohne seine Entdeckung nicht verstorben wäre. Das dritte Forschungsprojekt beschäftigt sich deshalb mit den Auslösern, Treibern und Folgen dieser medizinischen Kaskade, die zu einer Unzahl unnötiger Operationen führt. „Wenn wir gelernt haben, diese Dinge besser zu verstehen, lassen sich daraus hoffentlich Maßnahmen ableiten, solche Kaskaden zu verhindern“, führt Kühlein aus.

Beteiligt an dem Kooperationsnetzwerk „PRO PRICARE“ sind neben sieben Instituten der FAU die vier regionalen fränkischen Praxisnetzwerke QuE aus Nürnberg, UGeF aus Forchheim, MainArzt aus Ochsenfurt und die Ärztegenossenschaft Hochfranken mit zusammen genommen rund 200 haus- und fachärztlichen Praxen. Weitere Partner sind die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns sowie verschiedene Betriebskrankenkassen, die durch die GWQ ServicePlus vertreten sind.